„Becks letzter Sommer“ revisited – Zehn Fakten zum Buch

Zehn Jahre ist es her, dass der Roman Becks letzter Sommer im Sommer 2008 als Debüt im Diogenes Verlag erschien. Dieses Jubiläum möchte ich mit zehn Fun Facts begehen, die vielleicht noch unbekannt sind. Von einem Brief an Bob Dylan, teils absurden Bildern und der ersten Begegnung mit Christian Ulmen – bis hin zur schmerzhaftesten Streichung im Buch und dem alten ersten Satz.

 

Entstehung

Auf die Idee zum Roman kam ich nach einem Gespräch mit einem früheren Lehrer. Er liest bis heute meine ersten Manuskriptfassungen, und nach einem meiner Besuche in Bayern sagte er wehmütig: «Tja, du gehst jetzt wieder in dein Berlin zurück, und ich … bleibe auf ewig hier.» Er lächelte dabei, aber dieses Lächeln geriet ein wenig bitter – und wurde der Moment, an dem ich erstmals dachte: «Ich könnte ja etwas über einen Lehrer Ende dreißig schreiben, der sich nicht traute, seine Träume zu verwirklichen – und nun auf scheinbar ewig in seinem Beruf gefangen ist.»

Es war der Beginn von Becks letzter Sommer – und zugleich die Trennung von Realität und Fiktion. Denn mein Lehrer ist nicht nur charakterlich ganz anders als Robert Beck, sondern er hatte seinen Beruf einst auch bewusst und aus idealistischen Gründen gewählt, statt wie meine Figur aus Mut- oder Ideenlosigkeit.

Das Manuskript auf der Diogenes-Vertreterkonferenz 2008 – noch mit vielen Anmerkungen meiner Lektorin Ursula Baumhauer versehen. Der Roman erschien dann ein halbes Jahr später, im August 2008 – als ich gerade weit weg in den USA war, um für „Fast genial“ zu recherchieren.

 

Der Titel

Das Buch hatte in seiner längsten Form mehr als 300.000 Worte, das wären umgerechnet rund 1500 Seiten. Vielleicht ein kleines bisschen zu viel… Damals hieß die Geschichte noch Becks letztes Jahr, ich kürzte sie dann auf den Sommer herunter, da ich sonst keinen Verlag gefunden hätte – und das Manuskript viel zu überladen war. Nur zwei Menschen haben es in dieser Mammutfassung gelesen und beide werfen mir immer noch fassungslose Blicke zu, wenn die Sprache darauf fällt. Am Ende hatte der veröffentlichte Roman rund 460 Seiten, und wenn ich ehrlich bin: Das ist immer noch zu lang.

Als ich dem Buch vor einigen Jahren ein neues Cover gab und es ein letztes mal feintunte (ich schmiss vor allem Stellen raus, die mich inzwischen störten), überlegte ich deshalb, es radikaler umzuschreiben und noch mal siebzig Seiten rauszukürzen, was vermutlich die ideale Länge für diese Geschichte gewesen wäre. Aber so sehr wollte ich dann doch nicht eingreifen.

Der Diogenes-Verleger Daniel Keel war anfangs beim Titel nicht sicher und schlug vor, den Roman ganz anders oder auch nur Beck bzw. Becks Sommer zu nennen. Aber ich hing an dem mysteriösen Wort «letzter» und ließ alles so. (Dafür brachte Daniel Keel mich bei meinem ersten Roman auf den Titel Spinner, der damals noch Traumjäger hieß. Das Wort «Spinner» war mehrmals im Text vorgekommen, nach der Titeländerung strich ich es überall bis auf eine Stelle heraus.)

 

Die Arbeit am Buch

Ich schrieb knapp drei Jahre an Becks letzter Sommer, das meiste mit einundzwanzig und zweiundzwanzig. Die frühen Fassungen waren allerdings grauenhaft, ich schaffte es einfach nicht, diese Geschichte auch nur ansatzweise zu stemmen. Vor allem an der Figur des fast doppelt so alten Lehrers verhob ich mich. Meine Rettung war es dann, Robert Beck eine Art zynischen Neunziger-Jahre-Machismo zu verpassen, der mich befremdete. Aber ich musste die Figur ja nicht persönlich mögen, Hauptsache, sie funktionierte in der Geschichte. Zudem gab es nun auch viel mehr Raum für seine charakterliche Entwicklung. Und vor allem harmonierte der neue Beck sofort mit Rauli, die beiden schrieben sich ihre Dialoge fortan fast selbst.

Irgendwann 2007, bei einem der ersten Gespräche mit meiner Lektorin – zufällig eingefangen von meinem Vater, bei dem ich während des Anrufs zu Besuch war.

Auch Rauli Kantas hatte nach der ersten Fassung ein Makeover bekommen. Von einem wütenden Rebellen, der sich tatsächlich schon mit anderen geprügelt hatte und auffällig war, zu einem eher schüchternen, flunkernden und von jugendlichem Weltschmerz geplagten Außenseiter. Diese veränderte Figur rettete mich und das Buch. Von der ersten Sekunde an bestimmte der neue Rauli die Geschichte, beschrieb ständig diese gelben Zettel, brachte auf einmal eine Waffe mit in die Schule und gab mir immer wieder Rätsel auf. Es war das erste Mal, dass ich beim Schreiben selbst überrascht wurde und begriff, was es bedeutet, wenn eine Figur ein sogenanntes «Eigenleben» entwickelt. Ich hatte so etwas vorher für Autorenmärchen gehalten, aber in diesem Fall war es wahr.

 

Kantas und Istanbul

Apropos: Rauli kommt aus Litauen, weil einer meiner besten Freunde aus dem Heim Litauer war. Er und Rauli sind vom Charakter her grundverschieden, aber auch er war Musiker und spielte später in verschiedenen litauischen Bands (u.a. Mark Fiction). Der Bruder von Rauli ist nach ihm benannt: Genadius bzw. Genadij, die Kurzform. Einige Nebenfiguren tragen sogar die kompletten Namen von Freunden. Auf diese Weise wollte ich mich bei ihnen für die Unterstützung bedanken, und dafür, dass sie in schwierigen Zeiten an mich geglaubt hatten. Charlies Flugangst dagegen teile ich. Auch deshalb gibt es im Buch den Road Trip von München nach Istanbul, da ich mit fünfzehn eine ähnliche Reise in die Türkei gemacht hatte – notgedrungen und allein, aber das ist eine andere Geschichte.

Ich habe übrigens noch nie jemanden gesehen, der ein Buch von mir liest. Aber einmal saß ich im Zug auf Lesereise und hörte, wie ein Mann direkt hinter mir zu seiner Frau sagte: «Du, das ist so verrückt, hör dir das mal an…» Er begann nun, eine Stelle aus einem Buch vorzulesen, in der es um irgendein schrottreifes Auto ging. Ich hörte nur halb hin, aber die Szene war so abstrus – er las gerade vor, wie die derrangierten Insassen des Wagens beschrieben wurden – dass ich für zwei, drei Sekunden authentisch dachte: «Was ist denn das für ein Quatsch?» – bis ich aufsprang und mich zu dem Ehepaar herumdrehte: «Das ist ja mein Buch!» Das Paar und ich unterhielten uns noch lange, bis sie in Köln ausstiegen.

 

Die schönste gestrichene Figur

Beim Kürzen der Mammutfassung fielen einige geliebte Szenen und Dialoge raus, doch am meisten trauerte ich der Hochzeit von Becks Schwester Nina hinterher. Sie heiratete einen beflissenen Langweiler, der Beck immer schon ein Dorn im Auge gewesen war, und die Feierlichkeiten erstreckten sich über ein Wochenende. Inmitten der Familie seines Schwagers fiel Beck unangenehm auf, er betrank sich, es gab gleich mehrere peinliche Augenblicke und Zusammentreffen. Dafür kam er aber endlich Lara näher, mit der er gleich zu Beginn des Buchs einen Pakt geschlossenen hatte, sich gegenseitig zu jeweils schwierigen Hochzeiten zu begleiten (die Liebesgeschichte der beiden nahm in frühen Fassungen erheblich mehr Platz ein und ging über das ganze Jahr). Um das Manuskript in den Griff zu kriegen, musste ich jedoch nicht nur den Erzählstrang mit der Hochzeit streichen, sondern auch Becks liebevolle, manchmal fast spröde und immens kluge Schwester Nina – die ich als Figur mit am meisten mochte.

 

Verfilmung

Becks letzter Sommer wurde häufig abgelehnt. Mal zermürbte mich das, mal versuchte ich diese Rückschläge auch in Motivation zu verwandeln. Speziell beim Kürzen auf tausend bzw. fünfhundert Seiten stellte ich mir trotzig vor, wie das Buch irgendwann doch noch einen Verlag finden würde. Hin und wieder träumte ich dann sogar von einer Verfilmung – und sah immer Christian Ulmen vor mir, der vielleicht nicht ganz zufällig dem Beck im Buch in manchen Situationen ähnelte. Seit seiner MTV-Sendung Unter Ulmen und der Reihe Mein neuer Freund war ich Fan, und ich liebte auch seine Interpretation des Herr Lehmann.

Als mein Roman Jahre später erschien, flehte ich Diogenes und meinen Agenten an, Christian Ulmen ein Exemplar zu schicken. Ich rechnete mit nichts, bis die Antwort kam. Er mailte mir, dass er das Buch mochte und tatsächlich gern die Hauptrolle spielen wolle. Ich kann leider nicht im Ansatz adäquat die Jubelgeräusche zitieren, die ich in diesem Moment von mir gab. Die Realität zwang mich, das alles irgendwann zu akzeptieren, aber ganz fassen konnte ich es auch Jahre später nicht, nicht mal, als Ulmen 2015 das Hörbuch aufnahm.

Von links nach rechts: Nahuel Perez Biscayart (Rauli), Friederike Becht (Lara), Christian Ulmen (Beck) und Eugene Boateng (Charlie). Ich hätte mir keinen besseren Cast wünschen können. Der Film sollte erst wie das Buch in München spielen, wurde dort aber nicht gefördert, deshalb änderte sich der Ort in Berlin.

Der Verfilmung war kein Erfolg beschieden, aber zwei Momente sind mir sehr geblieben. Der eine war, zur Premiere der Becks letzter Sommer-Adaption ins Kino an der Kulturbrauerei zu gehen, am Eingang ein roter Teppich, der Saal voller Freunde und Verwandter – und dann lief da tatsächlich diese teils absurde Geschichte, die man sich Jahre zuvor ausgedacht hatte, oft voller Zweifel. All das mit geliebten Menschen im Saal teilen zu dürfen, war unglaublich. Schön auch das anschließende Herumhängen auf der Kinotour, die Gespräche mit Eugene, der ebenfalls überall dabei war, mit Friederike, mit Nahuel und dem Regisseur Frieder Wittich, mit dem ich später noch zusammenarbeiten sollte.

Und der andere unvergessliche Moment war die Erstbegegnung mit Christian Ulmen im Januar 2009. Ich hatte damals Schiss, wie es werden würde, dazu schwersten Liebeskummer wegen einer Amerikanerin, die ich Monate zuvor auf dem Schiff von New York nach Southampton kennengelernt hatte. Christian Ulmen war jedoch unfassbar sympathisch und zugewandt. Am Ende wurde es eine wunderbare, stundenlange Unterhaltung über Filme, Humor – und auch über Liebe (und Kummer).

In dieser Filmszene sieht man im Vordergrund Beck – und hinter dem Tresen einen Typen, der im echten Leben gleich zweimal als Kellner gefeuert wurde.

 

Cameos & Sequel

Mehrere Ortsnamen und Clubs im Roman sind erfunden, auch ein, zwei Bands. Anderes stimmt dagegen. Auf Seite 84 etwa sitzen Beck und Rauli im Atomic Café (mein Lieblingsclub in München und legendär für den «Britwoch» getauften Mittwoch, an dem vor allem englische Indie-Musik gespielt wurde), während des Konzerts einer Gruppe mit dem Namen Kafkas Orient Bazaar. Das Atomic gibt es nicht mehr (shame on you, München!), die Band hat leider auch schon lange nichts von sich hören lassen – aber ich habe sie mir nicht ausgedacht, sondern viele lustige Abende mit ihr verbracht. Als Beweis ihrer Existenz hier ein sehenswertes Musikvideo oder auch mein damaliger Lieblingssong von ihnen zum Hören.

Auch einen literarischen Cameo-Auftritt gibt es im Buch: Jesper, die Hauptfigur aus Spinner, gibt sich zwischendruch als Schüler die Ehre (während Rauli wiederum in Fast genial als Spieler im Casino vorbeischaut, wie aufmerksame Leser*innen bemerkt hatten). Und die Verbindung von der Beck-Verfilmung zu Vom Ende der Einsamkeit? Das fiktive Label Yellow Records, das Rauli unter Vertrag nehmen will – und für das Jules eine Zeit lang arbeitet.

Der Roman wurde 2009 mit dem Bayerischen Kunstförderpreis ausgezeichnet. Im Rahmen der Verleihung wurde ein Video gemacht, bei dessen Sichtung vierzehn Jahre später ich dann doch ein wenig peinlich berührt war … Ich habe übrigens immer wieder überlegt, eine Fortsetzung zu Becks letzter Sommer zu schreiben, die sich mehr um Rauli drehen würde, und sammelte bereits viele Ideen und Szenen dafür. Doch jetzt ist nicht der richtige Moment, und ich weiß nicht, ob es wirklich geschieht. Nicht alle Geschichten müssen geschrieben werden. Aber mal schauen, was da noch passiert: The Times, they are a changin‘.

 

Bob Dylan

Weil ich auf Lesungen oft danach gefragt wurde: nein, ich hasse Bob Dylan nicht, im Gegenteil, ich liebe seine Songs und Texte. Sie schlugen tiefe Wurzeln in mir und prägten mich. Dennoch hatte ich ursprünglich nicht vor, Dylan so prominent in die Geschichte einzubauen. Doch beim Schreiben hörte ich ständig seine Lieder und irgendwann fiel mir auf, dass Rauli dem jungen Dylan sogar ein wenig ähnelte: beide genial und erratisch, bei beiden durfte man aber nicht jeder Information trauen. Im nächsten Moment war dann schon Becks Vater großer Dylan Fan, während sein Sohn ihn wiederum hasste. Und schließlich, am Tiefpunkt auf der Reise, wurde Bob Dylan sogar selbst zu einer der wichtigsten Figuren im Buch, als er in einer Bar in Rumänien zum zweifelnden Beck das hier sagt:

«Sie sind hier, weil Sie keine Entscheidungen treffen. Und das ist schlecht. Denn wenn Sie es nicht tun, dann tut’s das Leben für Sie. Und das Leben trifft oft die schlechteren Entscheidungen, weil es Schwäche und Zögern bestraft. Die Welt ist für die Mutigen gemacht, der Rest schwimmt nur mit, die meisten gehen dabei unter. Die Frage ist also: Sind Sie wenigstens ein guter Schwimmer? Denn das müssen Sie sein, wenn Sie keine Entscheidungen treffen wollen.»

Wenn ich an den Roman denke, denke ich immer an Robert Zimmerman aus Minnesota, beides ist für mich untrennbar verbunden.

Oben: Mit Anfang zwanzig in der (mir heute etwas peinlichen) Pose als junger Möchtegern-Dylan mit Sonnenbrille. Es war der Sommer 2007, ich träumte noch immer davon, irgendwann einen Verlag zu finden und – wie meine Figuren – insgeheim auch davon, es mal ins „Rolling Stone Magazine“ zu schaffen.

Unten: Die Realität. Nach einer einsamen Nachtschicht um sieben Uhr früh, im Gefühl, bei einer schwierigen Szene wieder Mist geschrieben zu haben. Doch auch wenn das Bild – und der Roman – anderes vermuten lassen: Ich trank nie beim Schreiben und nahm generell keine Drogen.

Als die Verfilmung bevorstand, schrieb ich Dylan einen langen Brief und fragte auch, ob er sich selbst spielen wolle. Er sagte ab, aber sein Management gab an, dass er den Brief wirklich selbst gelesen habe … Bob Dylan auf diese Weise zumindest kurz sagen zu können, wie viel mir seine Songs bedeuten und dass sie mir als jungem Schriftsteller die Augen öffneten, bedeutet mir sehr viel. Egal wie schlecht es mir ging, sein Not Dark Yet half immer, ebenso das ewige und unerreichbare Like a Rolling Stone – und viele weitere Songs von dieser Playlist.

Vor den Roman gestellt ist ein Zitat von ihm: «But I was so much older then, I’m younger than that now.» Es galt mal, es gilt nicht mehr, es gilt vielleicht irgendwann wieder.

 

Der alte erste Satz

Die ursprünglich erste Szene des Romans spielte an Becks 37. Geburtstag, als er angetrunken nach Hause schwankt, in ein Gespräch mit einer Gruppe streitlustiger Teenager gerät und von ihnen schließlich auf geradezu demütigende Weise ausgeraubt wird. Der ursprünglich erste Satz wäre daher gewesen: «Es fing alles mit den geklauten Schuhen an.» Der jetzige erste Satz lautet: «Als er bei Neapel vor einem Lokal parkte, hatte Beck acht Stunden Fahrt und sein ganzes Leben hinter sich.»

 

The Beginning

Wie sieht man eigentlich aus, wenn man ein bestimmtes, lang erwartetes Paket aus Zürich bekommt? Wenn man es mit Herzklopfen öffnet, weil man ahnt: da ist der erste eigene, gedruckte Roman drin? Wenn diese Vermutung sich dann bestätigt und man das Buch endlich in der Hand hält – und es trotzdem einfach nicht fassen kann? Antwort:

Aufnahmedatum ist der 16.05.2008 – da erschien das Lese-Exemplar von „Becks letzter Sommer“, einige Monate vor dem Buchstart. Es sagt einem keiner, aber dies war der glücklichste, purste, unbeschwerteste Moment. Ich möchte allen danken, die mich auf dem Weg dahin unterstützten.