Bücher des Jahres und Tipps für Weihnachten

Wer noch auf der Suche nach einem Geschenk für Weihnachten ist – hier finden sich Geschenktipps mit kurzen Beschreibungen bzw. schlicht ein paar meiner persönlichen Bücher des Jahres. Erwähnt seien hier aber auch noch mal die tollen Debüts aus dem Frühjahr oder Werke, die auf dem Foto fehlen, weil ich sie gerade verliehen habe. Unter anderem der poetische, berührende Blick in die Kindheit der Dänin Tove Ditlevsen; Auftakt ihrer grandiosen Kopenhagen-Trilogie. Das gerade in diesen Zeiten so wichtige, Antisemitismus entlarvende und hintersinnig-kluge Der falsche Gruß von Maxim Biller. Und das in einer US-Bungalowsiedlung spielende Die einzige Straße von Astrid Rosenfeld – die auch auf der kurzen Strecke von Stories das ist, was sie immer bei Romanen war: eine begnadete Erzählerin. Weitere mögliche Empfehlungen sind:

 

MÄDCHEN, FRAU ET CETERA

Ganz klar eines meiner Bücher des Jahres. Bernardine Evaristo schildert anhand von zwölf geschickt miteinander verbundenen Charakteren das Schicksal von Frauen of Color in England. Ihr Roman reicht teils Jahrhunderte zurück, ist dann wieder absolut am Puls der Gegenwart – und wird getragen von einer mitreißenden Sprache und wahrhaft unvergesslichen Charakteren. Dass es etwa die junge Yazz oder die alte Hattie nicht geben soll und sie – ich wage es kaum zu auszusprechen – vielmehr erfunden sind, kann man nach dem Lesen nicht fassen. Aber auch die Art des Erzählens, von Evaristo «Fusion Fiction» genannt, muss man erlebt haben, um es wirklich zu begreifen: man rauscht nur so durch die Zeilen. So entsteht ein polyphones, raffiniertes, bewegendes aber auch immer wieder humorvolles Werk, das alles bietet, was man von einem Roman dieser Zeit nur wünschen kann. Ausgezeichnet mit dem «Booker Prize».

Erschienen im Klett-Cotta-Verlag.

 

WIE HAT IHNEN DAS ANTHROPZÄN BIS JETZT GEFALLEN?

Zugegeben, Sachbücher waren bis vor diesem Jahr meine große Schwäche. Ich kaufte sie zwar stets hoffnungsvoll und vorfreudig, ließ sie dann aber auf dem Nachttisch zu Wolkenkratzer-hohen Türmen anwachsen. Ich glaube, ich hatte am Ende immer ein schlechtes Gewissen, keinen Roman zu lesen – angesichts der vielen Artikel, die ich eh schon den ganzen Tag las, und vor allem angesichts der Klassiker und neuen Prosawerke, die ich auch immer noch nicht gelesen hatte … Was also könnte es Besseres zum Einstieg geben, als einen Lieblings-Romanautor, der nun sein allererstes Sachbuch geschrieben hat. John Green bewertet – inspiriert von gängigen Benutzerportalen – verschiedene Exponate, Diskurse und Begriffe unserer Gegenwart zwischen einem und fünf Sternen. Es kann Diet Dr. Pepper sein, aber auch die Jugend selbst. Er kommt dabei von Mario Kart auf soziale Gerechtigkeit und vom größten Farbball der Welt auf die berührende Anekdote einer selbsterlebten Depression. Er zeigt Schwäche und beweist dadurch Stärke, unterhält und erhellt zugleich. Ein Kaleidoskop unserer verwirrenden Zeit. Und so steht fest: John Green könnte auch ein Telefonbuch schreiben, ich würde es lesen … Ich gebe Wie hat ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen? fünf von fünf Sternen.

Erschienen im Hanser Verlag.

 

IM WASSER SIND WIR SCHWERELOS

Noch so ein fulminantes Debüt aus diesem Jahr. Thomas Jedrowski schildert die Geschichte von Ludwik und Janosz im Polen der 1980er Jahre. Sie lernen sich auf einer Ernte-Kampagne kennen, verlieben sich – über die Bande eines James-Baldwin-Romans gespielt – schnell ineinander, sehen sich aber auch mit diversen Problemen konfrontiert. Homosexualität ist in ihrem kommunistischen System verpönt und kann Karrieren zerstören. Zugleich missfällt Ludwik, dass der so selbstsichere Janosz sich mit der Partei gemein macht und pragmatisch nach dem besten Leben strebt, während er selbst eher idealistisch denkt und sich nicht verleugnen will. Und so spitzt sich die Handlung immer mehr zu … Das ist nicht nur spannend und unglaublich stimmig erzählt (man kann nicht glauben, wie jung dieser Autor in Wirklichkeit ist), sondern besticht auch durch eine elegante Sprache. Es war das «Book oft the year» des Guardian, und nicht unterschlagen sollte man an dieser Stelle auch, wie gut bereits der Titel ist, vor allem, wenn man die Geschichte gelesen hat. Im Grunde nur der erste von sehr vielen starken, poetischen Sätzen.

Erschienen bei Hoffmann und Campe.

 

DER GROßE TRAUM

Okay, eine Ausnahme meiner Sachbuch-Phobie gab es immer: Die Werke von Ronald Reng. Mit Sicherheit einer der besten lebenden Autor*innen von Sportbüchern. Was immer er erzählerisch anfasst, wird zu Lesegold. Ob das turbulente Leben eines Scouts mitsamt Blick in die Kellergewölbe der glitzernden Bundesliga (Mroskos Talente), die Lebensgeschichte des Spielers und Trainers Heinz Höher als Spiegel von fünfzig Jahren Bundesliga (Spieltage) und natürlich die berührende, eindringliche Schilderung des Nationaltorwarts und vor allem Menschen Robert Enke (Ein allzu kurzes Leben). In Der Große Traum geht es nun um drei sechzehnjährige Spitzenfußballer im Nachwuchsbereich. Sie alle dürfen zurecht von einer großen Karriere träumen, denn sie sind alle drei hochtalentiert und spielen in den besten Nachwuchsleistungszentren. Einer wird es am Ende tatsächlich schaffen. Aber wieso, und weshalb die anderen und so viele weitere nicht – das liest man atemlos. Man leidet nach Rückschlägen mit den Talenten und mit ihrer Beraterin, eine Pionierin in diesem Männersystem, fiebert bei guten Momenten oder wichtigen Spielen mit den bald liebgewonnen Protagonisten und erhält nebenbei tiefe Einblicke in die oft erratische, nicht immer gerechte Welt des Nachwuchsfußballs. Die dunkle Seite des Traums.

Erschienen im Piper-Verlag.

 

UNTENRUM FREI

In der Lockdown-Langeweile las ich auf der Seite vongestern.de alte Bravo-Foto-Love-Stories aus den Neunzigern. Doch das Lachen über die absurden Geschichten, Frisuren und Sprüche erstarb schnell. Weil ich einfach nicht glauben konnte, dass mir damals nicht aufgefallen war, was für ein schockierendes Bild dort nebenbei vermittelt wurde. Da ist etwa der «süße» Boyfriend schon mal so dauercholerisch und eifersüchtig, dass er der Heldin halt irgendwann eine klatschende Ohrfeige verpasst – aber hey, kein Problem, bald darauf sind sie wieder küssend vereint, Happy End. In Margarete Stokowskis großartigem Buch Untenrum frei werden just solche Stellen und alte Rollenbilder ins Ziel genommen und entlarvt – aber zudem noch so viel mehr. Wie bei ihren SPIEGEL-Kolumnen legt sie treffend den Finger in viele Wunden und hinterfragt gängige Muster einer oft rückständigen, immer noch patriarchal dominierten Gesellschaft und ihrem Umgang mit weiblicher und männlicher Sexualität. Untenrum frei zeichnet aber auch Stokowskis persönlichen Weg zur Feministin nach, es ist schmerzhaft und aufwühlend, aber auch humorvoll und gewitzt, und vor allem stets philosophisch untermauert und klug. Ein erhellendes Buch, von dem man sich wirklich wünscht, man hätte als es Teenager anstatt der Bravo gelesen (oder schon vor Jahren, statt es auf dem Nachttisch zwischenzuparken). Und zugleich auch ein prophetisches Werk, denn obwohl es bereits 2016 erschien, wirkt es in vielem aktueller denn je.

Erschienen im Rowohlt-Verlag.

 

SCHWARZES HERZ

In die Welt dieses Romans tritt man wie in ein einen Boxkampf. Von der ersten Seite an hagelt es Schilderungen wie Faustschläge. Jasmina Kuhnke erzählt das Leben ihrer Protagonistin in drastischen Worten, direkt und unverblümt. Über ihr schwieriges Aufwachsen als Schwarzes Mädchen in einem oft reaktionären Deutschland und die Gewalt, die sie schon früh erfuhr, etwa durch die toxische Höllenbeziehung mit einem Frauenschläger genauso wie durch den offenen oder auch systemischen Rassismus der Gesellschaft. Das in Toni Morrisons Sehr blaue Augen fiktiv durchgespielte Schicksal einer sich komplett gegen ein Mädchen verschwörenden Welt, wird hier bittere, harte Realität. Ich kaufte mir das Buch, weil ich beeindruckt war von Kuhnkes starken und mutigen Äußerungen zu der Frankfurter Buchmesse. Doch dieser Mut ist nichts im Vergleich zu dem, was sie im wirklichen Leben leistete. Schwarzes Herz hat mich erschüttert und durchgeschüttelt. Dieses Romandebüt ist ein Parforceritt und zugleich das mitreißende Zeugnis einer Selbstermächtigung.

Erschienen im Rowohlt-Verlag.

 

HIGH ENERGY

Jens Balzer schrieb vielleicht DAS Sachbuch über die 80er-Jahre, jedenfalls dürften danach nicht mehr allzu viele Fragen offenbleiben. Präzise und klar schildert er verschiedene Facetten des Jahrzehnts, geht dabei auf die unterschiedlichen Subkulturen genauso ein wie auf politische Strömungen, auf die sich etablierende Fitnesskultur ebenso wie auf die aufstrebenden Young Urban Professionals, kurz Yuppies. Es gibt Einblicke in den beschämenden Umgang eines Großteils der Politik mit Aids, die Ängste und Sorgen der Menschen damals, aber auch ihre Sehnsüchte und die neugewonnene Freiheit. Jetzt, wo alles Wichtige des Haushalts weitgehend angeschafft war, konnte es darum gehen, wie man die Freizeit gestaltete. Er schildert, wieso Arnold Schwarzenegger immer wieder an Schlüsselmomenten dieser Dekade auftauchte und Zurück in die Zukunft wichtig und zugleich problematisch war, aber auch wie sich damals jeder eine Wende erhoffte. Die neugegründeten Grünen für die Umwelt, Helmut Kohl geistig-moralisch als Rückkehr zu altbackenen gesellschaftlichen Rollenbildern. Nur die wirkliche Wende am Ende des Jahrzehnts, die sah niemand kommen.

Erschienen bei – schon wieder – Rowohlt.

 

DER GROßE SOMMER

Bleiben wir in den Achtzigern. Ein Sommer in der BRD: Der 17jährige Frieder darf nicht mit der Familie nach Italien, da er durchzufallen droht. Stattdessen muss er die Ferien bei seinen Großeltern verbringen um für die Nachprüfung zu lernen. In diesem Sommer wird er sich verlieben, hinter die Fassaden von zuvor nie groß hinterfragten Menschen schauen, er wird aber auch schmerzhafte Erfahrungen machen und später spüren, dass es die vielleicht prägendste Zeit seines Lebens war … Eine feine, gefühlvolle, wehmütige, aber nie kitschige, sondern oft lustige und wunderbar erzählte Geschichte vom Zauber der ersten Male. Ewald Arenz hat, wie man mir dieses Jahr öfters sagte, das «andere» jugendliche Sommerbuch geschrieben. Und was für ein schönes, kann ich da nur antworten. Verdient gewann es die Wahl zum Lieblingsbuch der unabhängigen Buchhandungen, und es war eine Ehre, mit Hard Land mit ihm nominiert gewesen zu sein.

Erschienen bei DuMont.

 

WAS WEIßE MENSCHEN NICHT ÜBER RASSISMUS HÖREN WOLLEN, ABER WISSEN SOLLTEN

Zum Abschluss ein weiteres Sachbuch, das zwar auch schon von 2018 ist, das ich aber ebenfalls erst dieses Jahr las und das schlicht zu gut ist, um es nicht zu teilen: Was war die „Maafa“? Und was bedeutet „Intersektionalität“? Solche für unsere Gesellschaft elementaren Begriffe werden hier genauso erklärt wie der Unterschied zwischen Fremdenhass und Rassismus – und wieso letzterer auch bei Aufklärern wie Kant und Voltaire seinen Ursprung findet. Vor allem aber erzählt Hasters auf persönliche und mitreißende Weise ihre Lebensgeschichte und erklärt anhand von vielen Beispielen und Anekdoten was es bedeutet, als Schwarze Frau in Deutschland aufzuwachsen. Nach dem Lesen wird einem klar, dass wir erst am Anfang einer wirklich aufgeklärten Debatte über Rassismus stehen. Ein kluges, empathisches und erhellendes Buch, von dem man sich wünscht, dass es viele Menschen lesen.

Erschienen bei Hanser.

Das mal ein paar Vorschläge von mir, alles nur persönliche Meinungen. Apropos: Ich würde mich freuen, in den Kommentaren auf Facebook auch Tipps von euch zu bekommen, so wie im Frühjahr den tollen mit Tomasz Jedrowski. Oder was vom Nachttisch als Nächstes drankommen sollte, etwa Antje Rávic Strubel, Mithu M. Sanyal, Rachel Cusk und Florian Illies. Und wer sich in diesen Tagen einen Ruck geben und etwas spenden möchte – neben vielen anderen Ideen könnte man auch machen:

OSKAR SORGENTELEFON

KÄLTEHILFE BERLIN

ELINOR FÜR NOTLEIDENDE KÜNSTLER*INNEN

Euch allen ein schönes Fest, ich hoffe, ihr kommt gut und gesund durch diese Zeit!