Gestern war ich bei einem Abendessen mit zwei aus der Ukraine geflüchteten Frauen, die Freunde von mir für einige Monate bei sich aufgenommen haben. Sie erzählten, wie sie über zehn Tage hinweg durch verschiedene Länder in die Schweiz geflohen waren, von ihrer Trauer, ihrer Wut, ihrer Panik. Sie zeigten Videos von zerbombten, rauchenden Häusern in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft. Oder von dunklen Kellern, in die sie und andere Hausbewohner*innen zwischendurch immer wieder fliehen mussten. Man blickt in diesen Videos in angsterfüllte, ungläubige Gesichter, während man gedämpfte Schüsse und Flugzeugedröhne hört. Die Geflüchteten sind Mutter und Tochter (dazu ein dreizehn Jahre alter Mops), sie berichteten vom körperlichen Stress des Kriegs, der auch nach Tagen der Sicherheit nicht abklingt, von traumatischen Erlebnissen in ihrer Heimat und unterwegs. Wie sie nachts immer nur angezogen schliefen, um im Zweifel sofort um ihr Leben rennen zu können – und wie sie selbst in der Schweiz zusammenzucken, wenn sie in der Ferne ein Flugzeug am Himmel sehen.
Und genauso gab es an diesem Abend auch ganz normale Unterhaltungen über Glauben und Kirche, Beziehungen oder den neuen Spider-Man, den sie zuletzt noch im Kino sahen. In solchen Momenten wirkte es besonders surreal, dass sie nur hier waren, weil ihr Land nun schon seit Wochen von Putins Armee bombardiert und angegriffen wird, auch sie selbst konnten es trotz aller Bilder und Videos immer wieder nicht fassen. Viele Freunde und ihr Vater bzw. Mann sind noch in der Ukraine geblieben. Sie schlafen schlecht, das Erste, was sie morgens nach dem Aufstehen und abends vor dem ins-Bett-gehen machen, ist das Lesen von Nachrichten aus der Heimat: Die tägliche Vergewisserung, dass es geliebten Menschen zu Hause noch gut geht und sie einen weiteren Tag dieses sinnlosen Tötens überlebt haben. Wir verständigten uns immer wieder mit dem Handy, das Ukrainisch mit monotoner Stimme in Deutsch übersetzte und zurück, und es klappte erstaunlich gut.
In der Süddeutschen Zeitung gab eine Expertin Auskunft und beantwortete viele Fragen, was man beachten sollte, wenn man Geflüchtete bei sich aufnehmen oder anderweitig helfen möchte.
Und sonst kann man ganz einfach spenden.
Bedrückend sind auch die Gespräche mit Russen, die gegen diesen Krieg sind, wütend und beschämt. Die mit der Ukraine mitfühlen und sagen, dass sie auf eine gewisse Weise ihr eigenes Land verloren haben, weil sie unter den derzeitigen Umständen nie mehr dorthin zurückkönnen oder wollen. Währenddessen rollt die Propagandamaschine in Russland auf Hochtouren, werden Demonstranten und Andersdenkende eingesperrt, Facebook und Instagram abgestellt und wird weiter unbeirrt von „Entnazifizierung“ gesprochen, obwohl Ukraines Präsident Selenskyj jüdisch ist und Verwandte im Holocaust verloren hat.
Und so sind die Stimmen aus der Ukraine umso wichtiger. Der Schriftsteller Andrej Kurkow etwa führte ein Tagebuch. Der Autor Serhij Zhadan wiederum berichtete im Spiegel vom Leben in der umkämpften Stadt Charkiw.
Es gibt viele Debatten, welches Vorgehen eine weitere, möglicherweise atomare Eskalation provoziert, welches Risiko man noch eingehen kann und was nun von Seiten des Westens und Europa unternommen werden sollte. Ich glaube, die meisten von uns machen im Moment wenig anderes als täglich darüber zu diskutieren. Aber egal, welche Position man in diesen Fragen vertritt, entscheidend ist es, gerade die Stimmen aus der Ukraine immer wieder anzuhören. Ob aus der Literatur, ob von den Menschen, die im Land ausharren, oder von denjenigen, die geflohen sind.