Ich war der Meinung, immer zu lesen und aufzutreten, egal, was passiert. Nach einem Verlust genauso wie am Tag einer Trennung mit Liebeskummer oder – vor Corona – mit Fieber. Gestern in der Buchhandlung «Lehmkuhl» war das erste Mal, dass ich es für ein paar Minuten nicht konnte. Ich konnte nicht weitermachen und vor anderen aus einem vergleichsweise unbeschwerten Roman wie «Hard Land» lesen, während gerade Krieg geführt wird und viele Menschen für die irren Pläne eines inzwischen Diktators ihr Leben lassen – oder alles verlieren, was dieses ausgemacht hat und aus ihrer Heimat fliehen müssen. 1,25 Millionen Menschen sind es inzwischen, die ihr Zuhause verloren haben, ganz zu schweigen von denen, die längst hungern oder um geliebte Freunde und Verwandte trauern und fürchten.
Ich war die Tage davor in Berlin; bei Freunden, die Flüchtlinge aufnahmen, am Pariser Platz bei den frühen Demonstrationen. Überall spürte man die Nähe zu dem Grauen, das gerade passiert. Der Krieg mag geographisch ein Stück von uns entfernt sein, aber es ist am Ende auch Europa als Ganzes, das hier angegriffen wird. Unsere Solidarität, unsere tolerante Gesellschaft, unsere gemeinsame Demokratie, unsere Freiheit, die die Menschen in der Ukraine seit vielen Tagen mit Einsatz ihres Lebens verteidigen.
Letztlich ist das aber auch der Grund, wieso es vielleicht gut ist, selbst in diesen finsteren Zeiten zu lesen und nicht angesichts des tagelangen Nachrichtenschauens bis in die Nacht den Kopf hängen zu lassen, denn genau das ist es, was dieser Krieg neben allem Leid und Tod in der Ukraine auch bezwecken soll: Er soll in unsere Herzen, unsere Köpfe, soll uns destabilisieren und lähmen. Umso wichtiger ist es, den Mut nicht zu verlieren, egal, wie. Und gerade Bücher und Geschichten haben immer das Potenzial gehabt, Grenzen wieder niederzureißen. Zu zeigen, dass wir alle nur Menschen sind, zwar mit unterschiedlichen Hoffnungen, Wegen und Brüchen, aber alle gleich.
In Kriegen und Diktaturen werden immer die Stimmen der anderen als Erste zum Verstummen gebracht. Die der unzähligen Russinnen und Russen zum Beispiel, die schon längst im Ausland leben und bestürzt von Putins Angriffskrieg sind. Oder die in ihrem Land blieben und jetzt unter schwierigsten Bedingungen Zivilcourage zeigen; etwa die siebentausend russischen Wissenschaftler*innen, die einen Brief gegen den Krieg unterzeichneten und dadurch alles zu verlieren drohen. Oder die unzähligen Demonstranten oder Oppositionellen, die wie Nawalny längst im Gefängnis landeten und mundtot gemacht werden sollen. Es ist gut, dass Putin sich nicht mehr im Erfolg russischer Sportteams oder anderer Veranstaltungen sonnen kann, und somit keine Normalität vorgespielt wird. Aber es gibt auch das andere Russland, und wir müssen es weiter hörbar machen, hörbar halten, während Facebook dort inzwischen abgeschaltet wurde.
Und genauso sind es die ukrainischen Autor*innen, deren Stimmen wir jetzt laut drehen und hören müssen. Die aus ihren Büchern – etwa „Graue Bienen“ von Andrej Kurkow -, aber auch die aus ihren Nachrichten, Interviews und Tweets. Sie erzählen uns von ihrer Angst, ihren Hoffnungen, ihrem Leid und ihrem Leben in einem Land, das bis vor kurzem noch frei war. Sie alle wollen diesen sinnlosen Krieg nicht, sondern etwas, das wir alle vielleicht lange für zu selbstverständlich hielten: einfach nur in Frieden leben.
Es gibt vieles, was wir tun können. Wir können spenden, etwa für humanitäre Hilfe. Wir können selbst an die Grenzen fahren oder Geflüchtete aufnehmen. Wir können mitfühlen und hinsehen. Wir können die Stimmen der Russ*innen hörbar machen, die gegen diesen Krieg sind, denn es sind viele. Und vor allem können wir den Menschen aus der Ukraine zuhören. Solange, bis auch hier die Grenzen zwischen uns verschwinden. Denn was dort passiert, geht uns genauso an. Bitte hört diese Stimmen der Ukrainer*innen und lest ihre Texte.
#StandWithUkraine
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Hier ein Video von der Lehmkuhl-Lesung zu diesem Thema.