„Fast genial“ revisited – Alles über das fiese Ende und eine goldene Reise durch Amerika

Auf kaum eine Stelle aus den Büchern wurde ich auf Lesungen so oft angesprochen wie auf das Ende von Fast genial. Es gab Menschen, die mir dafür eine «reinhauen» wollten, andere baten mich, ihnen endlich die ultimative Antwort zu geben. Zehn Jahre nach Erscheinen des Romans – damals im Spätsommer 2011 – möchte ich für Interessierte ein paar Hintergründe schildern. Dazu auch die Idee für einen alternativen Schluss, den ich früh verworfen hatte. Es liegt in der Natur der Sache, dass ein Text über das Ende ein paar Spoiler enthält – der letzte Teil ist also nur für Menschen, die das Buch schon gelesen haben (ich gebe Bescheid, sobald wir die «verbotene Zone» erreichen).

 

Ein Road Trip durch die USA

Über die Entstehungsgeschichte von Fast genial bin ich bereits in diesem Werkstatttext eingegangen. Die ersten Kapitel hatte ich jedenfalls im Frühjahr 2007 geschrieben, danach hatte ich den Roman bewusst weggelegt. Ich wollte erst wie meine Figuren einen Road Trip durch die USA machen, um ein Gespür für Land und Leute zu kriegen.

Kaum, dass ich meinen Vorschuss für Becks letzter Sommer bekommen hatte, reiste ich deshalb im Spätsommer 2008 mit Freunden nach Amerika – wegen meiner Flugangst mit dem Schiff. Eine abenteuerliche Überfahrt, auf der wir wegen der Zeitverschiebung jede Nacht eine Stunde Schlaf gewannen, am Ende aber trotzdem fast wie in Trance über das Boot liefen, mit einer Gruppe internationaler junger Leute aus Frankreich, Israel, Amerika und Mexiko herumhingen, nachts im Jacuzzi schwammen oder im Karaoke versagten (nach unserer Interpretation von Ring of Fire hätte Johnny Cash vermutlich erst mal einen Whiskey gebraucht). Zwischendurch erlebten wir auch den gewaltigsten Sturm in der Geschichte der Queen Mary 2; Windstärke zwölf von zwölf und Wellen, die selbst Hochhäuser überagt hätten – unvergesslich, wie einmal gefühlt das ganze Schiff aufschrie, als wir wie in einer Achterbahn herumgeschleudert wurden und mit dem Bug voran ins Wasser eintauchten.

In New York angekommen, planten wir den gleichen Road Trip wie im Buch. Ich hatte die Monate davor Angst gehabt, wie es werden würde, und mich zu dieser Fahrt mehrmals überwinden müssen; nie zuvor hatte ich so etwas gemacht und mich derart weit in die Welt hinaus getraut. Aber vom ersten Tag an schimmerte unsere Reise golden.

Der Ausblick vom Rockefeller-Center, eines der Dächer der Welt. In New York trafen wir zufällig eine Mitschülerin, die ebenfalls in den USA war und in den Westen wollte. Sie schloss sich uns an. Wir mieteten einen Chevy und machten uns zu viert auf den Weg.

Unser Trip führte uns durch Chicago und den Mittleren Westen (wo ich in einem Kaff am Missouri River dachte: «Hier müsste irgendwann dieses Hard Land spielen») bis zum Grand Canyon. Unterwegs hörten wir das brüllend komische Hörbuch Fleisch ist mein Gemüse von Heinz Strunk und diverse selbstgemachte Amerika-Playlists. Wir wechselten uns beim Fahren ab, spielten Spiele, stürzten uns in die gigantischen Städte, aßen on the road immer wieder in Diners und übernachteten in Viererzimmern in billigen Motels. Doch egal, wie müde wir waren, fast immer trafen wir uns noch an den meist versifften Hotelpools und diskutierten die halbe Nacht über das Leben, unsere Reise und eine Zukunft, die mit Mitte zwanzig noch teils fern und schwer zu greifen schien.

In Las Vegas blieben wir zwei Tage. Eine Stadt in der Wüste, die nur nachts richtig funktionierte und tagsüber aussah wie das Filmset einer modernen Version der Hölle. Ich wollte unbedingt wie meine Figuren in der Buchmitte im Casino spielen und schwachsinnigerweise auch verlieren, um zu wissen, «wie es sich anfühlt» (Spoiler: nicht super, wer hätte das gedacht). Mit nur geringem Einsatz ging es dann auch schnell dem Ende entgegen. Bis meine Mitspielerin und ich unser letztes Geld auf die Zahl 36 setzten, in deren Fach die kleine weiße Kugel nun absurderweise fiel. Auf einmal hatten wir hunderte von Dollar und gingen zur Feier in den ansonsten viel zu teuren Cirque de Soleil.

Nachts zockte ich dann noch einmal allein im MGM Grand – und verlor den Rest meines Gewinns und sonstigen Spielgeldes. Wechselte weitere sechzig Dollar und verlor auch die. Danach trottete ich wie betäubt vom Tisch weg. Egal, wie hoch oder niedrig die Einsätze sind – am Ende sind es nur noch Chips. Man verliert im Lärm des blinkenden Casinos und in dieser völligen Reizüberflutung tatsächlich jedes Gefühl für den Wert des Geldes.

In dieser Nacht kam ich seltsam erschöpft ins Hotel zurück und schrieb, da die anderen schliefen, unter dem grellen Deckenlicht des Bads noch Tagebuch – und plötzlich hatte ich den Schluss des Romans. So musste es enden, O mein Gott, O mein Gott … Ich kritzelte die Ideen ins Buch und konnte es fortan kaum erwarten, das alles endlich zu schreiben.

Irgendwo in New Mexiko. Das Schönste war es, zu viert im Wagen zu sitzen, zu reden oder Musik zu hören und gemeinsam durch dieses endlose Land zu fahren, wie im Buch immer gen Westen.

Unsere Reise führte uns weiter durch das Death Valley und in das von bronzenem Sonnenlicht überhauchte Kalifornien. Wir blieben eine Woche am Strand, besuchten San Franciso und trennten uns schließlich schweren Herzens in Los Angeles, wo zwei von uns zurückflogen. Mit dem verbliebenen Freund ging es für mich noch runter nach Tijuana, das ich zumindest kurz sehen wollte, da es ein wichtiger Ort im Buch ist. Es gibt ein Foto, auf dem wir gerade unseren Chevy vor der mexikanischen Grenze abgestellt haben und linkisch davorstehen, und wenn man genau hinsieht, erkennt man, dass wir Schiss haben.

 

Die Tijuana Story

Auf dem Weg nach Tijuana wollte niemand unsere Ausweise sehen, wir betraten das Land ohne jede Kontrolle. Kaum waren wir in Mexiko, wurden wir von Taxifahrern bedrängt, die uns zur Hauptstraße fahren wollten, «La Revolución», auch «La revo» genannt. Offenbar eine Sündenmeile, denn die Fahrer riefen immer wieder «Revolución – Prostitución». Auf der berüchtigten Straße selbst sah man überall Touristen (jedoch nicht so viele trinkwillige amerikanische Teenager wie erwartet), zwielichtige Gestalten, die uns anquatschten, und mexikanische Jugendliche, die geheiratet hatten und hupend in Oldtimern an uns vorbeisausten. Ansonsten viele Clubs und Geschäfte mit Sombreros und Souvenirs. Wir aßen zu Abend, tranken in einer Bar als brave Klischeetouristen Tequilas, unterhielten uns mit ein paar sehr netten Mexikanern, die herumreisten, und gingen nach Mitternacht zurück.

Wir mussten uns allerdings verlaufen haben, denn anders als auf dem Hinweg schien die Strecke zur Grenze nun endlos und führte durch unzählige schmale Seitengassen. Unterwegs wurden wir das Gefühl nicht los, verfolgt zu werden. Ein finster wirkender Mann mit Schnauzbart war schon die ganze Zeit hinter uns. Erst waren wir überzeugt, es uns nur einzubilden, aber tatsächlich ging er jede Kurve mit uns mit, immer mit drei Metern Abstand. Wir taten irgendwann, als würden wir nach rechts zu den großbeschilderten Toiletten gehen, er ging ebenfalls nach rechts, überholte uns und verschwand hinter der Ecke, wo er vermutlich auf uns wartete. Wir bogen deshalb nach links ab – doch sofort kam er wieder um die Ecke geschossen und war aufs Neue hinter uns. Es war eine Filmszene, das Licht heruntergedimmt, und während die Gassen zur Grenze vorhin voller Menschen und Lärm gewesen waren, gab es nun niemanden mehr; Stille, die Geschäfte geschlossen, die Fenster dunkel, nur wir und dieser Typ.

Hier war die Welt noch in Ordnung: Lichter brannten, Händler*innen unterhielten sich, Taxifahrer wollten uns zur berüchtigten Straße «La Revolución» bringen. Auf dem Rückweg war es stockfinster und menschenleer.

Wir gingen schneller, der Mann hinter uns ebenfalls. Er wirkte auf uns bewaffnet, derart sicher und ruhig war sein Blick, wenn wir uns nach ihm umdrehten, obwohl wir doch zu zweit waren. In unserer Panik beschlossen wir, auf Verrückte zu machen. Wir gaben schräge Geräusche von uns, brüllten sogar, doch der Mann durchschaute die Show und blieb uns weiter auf den Fersen. In diesem Moment flüsterten wir «Scheiße» und rannten einfach los – der Mann ebenfalls. Eine im Nachhinein surreale Szene: In vollem Tempo sprinteten wir alle drei um eine Ecke, eine lange Gasse entlang, noch mal um die Ecke. Schließlich rannten wir an einer Mauer metallene Treppen nach oben. Der Mann ließ nicht ab, blieb die ganze Zeit dicht hinter uns, wir hörten im Rennen sein Keuchen. Doch oben, am Ende der Treppen, stand ein hellbeleuchteter 24-Stunden-Drugstore mit einigen Kunden, in den wir nun flüchteten. Ich sehe noch den Blick des Mannes vor mir, als er mit schnellen Schritten am Laden vorbeiging und uns dabei anstarrte – ehe er in der Dunkelheit verschwand.

Nach zwanzig Minuten schlossen wir uns einem Pulk vorbeiströmender Touristen an und kamen sicher zur Grenze. Beim zähen Warten am Übergang in die USA (hier wurde alles mehrmals kontrolliert) fiel mir ein Plakat mit gesuchten Verbrechern auf, und Nummer 25 oder 26 sah – und das schwöre ich, es ist keine Schriftstellermär – unserem Verfolger so ähnlich, dass ich ihn melden wollte. Mein Kumpel dagegen zweifelte es an und meinte, der Mann wäre sowieso längst unauffindbar. Das Erlebnis zitterte noch in uns nach, und so ließ ich mich am Ende von seinem bestechenden Argument überzeugen: «Vergiss es, lass uns einfach so schnell wie möglich hier abhauen.»

 

Die erste Fassung

Zurück in Deutschland schrieb ich noch ein Kapitel von Vom Ende der Einsamkeit fertig, dann machte ich mich endlich ans Schreiben von Fast genial. Eine zähe Angelegenheit. Damals glaubte ich, dass ich meinen Enthusiasmus der ersten Romane verloren und eine Schreibkrise hätte, heute weiß ich, dass es anders war: Ich hatte schlicht und einfach vergessen, wie mühsam, wie schwierig und ja, auch, beschissen so eine erste Romanfassung jedes Mal aufs Neue wieder ist.

Das Buch hatte keinen konsistenten Ton, war am Anfang noch lustig und fast eine böse Satire, hinten heraus dann dramatisch und ernst. Und der selbsterlebte Road Trip durch die USA fühlte sich, wann immer ich etwas davon in den Roman einfließen ließ, auf einmal egal und uninteressant an. Erst später begriff ich, dass auch das völlig normal ist. Dass man in die fremde Welt einer fiktiven Geschichte so gut wie nie etwas «mitnehmen» kann, sondern nur das verwenden darf, was man dort vorfindet. In anderen Worten: Ich konnte den Figuren keine selbsterlebten Ereignisse meines USA-Trips aufzwingen, egal wie witzig oder dramatisch sie für mich waren. Ich musste ihre Erlebnisse und Gespräche finden und aufschreiben.

Bis heute fremdle ich jedoch mit dem Buch. Vielleicht, weil es nicht von innen heraus entstand und auf einem Zeitungsartikel basierte, ich so immer das Gefühl hatte, nicht nahe genug dran gewesen zu sein; als wäre ich beim Schreiben hinter einer Glasscheibe gestanden. Vielleicht fühlt es sich aber auch fremd an, weil ich – anders als später bei Vom Ende der Einsamkeit – einfach noch nicht meine Sprache gefunden hatte. Weshalb ich selbst bei persönlichsten Stellen wie in der Psychiatrie der Mutter an meinem Schmerz vorbeischrieb, weil ich keine Worte dafür hatte.

Zudem entglitten mir die Figuren schon früh, wenn ich ehrlich bin. Sie waren viel negativer als gedacht und verhielten sich oft nicht so, wie ich es gern gehabt hätte, versperrten sich auch einer klassischen Entwicklung. Teilweise faszinierte mich das allerdings in meinem Frust, denn dadurch wurden sie für mich selbst unberechenbarer.

Eine Sache machte mich jedoch damals wie heute glücklich: Das Ende. Denn es wurde tatschlich genauso, wie ich es mir damals im Bad in Las Vegas vorgestellt hatte.

Die letzten achtzig Seiten des Romans tippte ich in anderthalb Tagen, nassgeschwitzt, auf der Basis von Kaffee und so vollkommen in der Geschichte versunken, wie es mir davor oder danach fast nie mehr passierte (Ausnahme: der dritte und vierte Teil von Hard Land). Und so sehr ich am Rest des Manuskripts noch jahrelang feilte oder mit ihm haderte – diese achtzig Seiten mitsamt dem kompletten Schluss sind bis heute fast unverändert im fertigen Buch geblieben.

Auf der Rückfahrt hielten wir in der kalifornischen Kleinstadt Carpenteria, die im Buch eine Rolle spielt. Ich konnte es damals nicht erwarten, nach Hause zu kommen, um endlich den Schluss von „Fast genial“ zu schreiben. Aber es war auch nicht sooo schlimm, noch ein paar Tage dort herumzuhängen und sich mit dem Bodyboard in die Wellen zu schmeißen, zur, ähm, „Recherche“. Für mich bis heute unvergesslich: Am anderen Ende der Welt zu stehen und auf den Pazifischen Ozean zu blicken – ohne für diesen Weg ein Flugzeug benutzt zu haben.

 

… and the movie?

Die Filmrechte wurden schon kurz nach Erscheinen verkauft. Doch obwohl wir sechs Jahre am Drehbuch schrieben und eine schöne Fassung auf Englisch hatten (wie ich finde), ist unklar, ob die Fast genial-Adaption je gedreht wird. Das Projekt scheiterte, als die Produktionsfirma uns schlussendlich bat, die Geschichte nach Europa umzuschreiben; für eine deutsche Firma wäre es einfach zu kompliziert, den Film in den USA zu finanzieren. Doch auch wenn es mir schwerfiel, verweigerte ich diesen Schritt. Diese Geschichte kann für mich nur in Amerika spielen, ihr Zuhause ist zwischen New York und Los Angeles, nicht zwischen Berlin und Barcelona. Sie gehört entweder richtig erzählt – oder gar nicht.

So hieß es also erst mal: Rien ne va plus. Und doch bin ich sehr dankbar für diese Zeit. Zum einen lernte ich vieles über die Arbeit am Drehbuch und das Schreiben generell. Und zum anderen traf ich dadurch viele tolle Menschen wie unsere Produzentin Lena Schömann, die uns immer förderte, während mein Drehbuchpartner Frieder Wittich sogar einer meiner besten Freunde wurde.

Mal schauen, was in Zukunft aus diesem Projekt wird.

 

Das Ende des Romans

 – Achtung, ab jetzt kommt es zu SPOILERN –

Der Schluss – von einigen definitiv gehasst, von manchen hoffentlich auch gemocht – ist für mich bis heute der einzig mögliche Ausgang der Geschichte. Auch deshalb wird er schon auf der allerersten Seite mit dem Münzwurf angedeutet. Denn so, wie später das Ende mit Rot oder Schwarz offenbleibt, wird auch bei der Münze am Anfang nicht aufgelöst, wie es ausgeht: Kopf oder Zahl. Zudem geht es im Buch so oft um den Zufall (die Auswahl der Spenderväter, die besagte Münze, die Unterhaltung mit Andy Kinnear, das Roulettespielen, der Unfall von Anne-Mays Bruder, etc.), dass ich beschloss, dass auch der Roman selbst zufällig enden sollte. Je nachdem, wer liest, geht die Geschichte gut oder schlecht aus.

Vor allem aber wollte ich, dass man Fast genial nach dem Lesen nicht einfach weglegen kann, Deckel drauf, fertig. Ich wollte, dass das Ende unbequem ist und die Leser*innen im besten Fall auch danach noch darüber nachdenken, alleingelassen mit dem jugendlich verzweifelten Francis im Casino. Eine kleine offene Wunde. Denn zu Beginn hatte ich lange überlegt, wie ich diese wahre Geschichte erzählen sollte. Es hätte auch die Möglichkeit bestanden, die im Buch gestellten ethischen Fragen deutlich tiefer zu verhandeln oder mich gar selbst an einer Antwort zu versuchen. Aber ich wollte eine Lagefeuer-artige Geschichte schreiben, direkt erzählt, wollte die Leser*innen so nah wie möglich an Francis heranführen und lieber selbst zum Nachdenken bringen. Dafür war der offene Schluss eine große Hilfe. Die überhöhte Szene im Casino fühlte sich für mich immer wie ein Roman-gewordener Fiebertraum aus einem der Rapsongs an, die Francis hört.

Mein alternatives Ende wäre realistischer und düsterer gewesen. In einem Land wie Deutschland mit seinen sozialen Auffangnetzen ist es für manche vielleicht unverständlich, aber Geld nimmt in Amerika noch mal eine ganz andere Rolle ein. Vor allem im Jahr 2005, in dem der Roman spielt, als es vor Obamacare nicht mal eine Krankenversicherung für arme Menschen gab und sich die USA noch mitten im Irakkrieg befanden. Beim Alternativ-Schluss hätte ich die Schrauben deshalb angezogen:

Francis hätte auch hier auf keinen Fall so werden wollen wie sein leiblicher Vater, sich deshalb in verschiedenen Jobs abgeschuftet und um seine Mutter gekümmert, die niemanden hatte und auf ihn angewiesen war. Aber nichts, was er getan hätte, wäre in den Jahren nach seiner Reise genug gewesen. Der Traum, zu studieren, wäre auch ohne die teuren College-Gebühren unerreichbar gewesen – denn wer hätte in seiner Abwesenheit die Miete für den Trailer und alles andere für seine Mom bezahlt?

Dazu wäre seine Mutter noch mal rückfällig geworden und hätte mit einer akuten manischen Depression in die Klinik gemusst – sie hätten aber kein Geld mehr gehabt, das zu bezahlen. Nicht mal für die Antidepressiva. Denn der im Buch erwähnte Autounfall mit dem Buick hätte – auch hier ohne Versicherung – in dieser Variante viel mehr gekostet. Tausende Dollar, die sie einfach nicht gehabt hätten. Und schon wären sie in den Schulden gewesen.

Ryan hätte wie angekündigt nicht mehr ausgeholfen und mit einer neuen Frau zusammengelebt, Francis und seine Mom hätten auch sonst niemanden gehabt, die Situation wäre zunehmend aussichtslos gewesen. Anne-May dagegen wäre mit dem gemeinsamen Sohn John längst nach New York gezogen, kurz davor, mit einem Kollegen in ihrem neuen Job anzubandeln.

In dieser Lage hätte Francis sich seinem Nachbarn Toby anvertraut, und dieser hätte in etwa gesagt: «Schau, ich will dich da nicht reinziehen, aber ich will dich auch nicht im Stich lassen. Du hast ein offenes, unauffälliges Gesicht, jedenfalls unauffälliger als die meisten hier…» Und dann wäre es darauf hinausgelaufen, dass zweimal im Monat ein bestimmtes Auto im Trailerpark vorbeigefahren wäre – und Toby hätte Francis angeboten, das nächste Mal einzusteigen und «mitzukommen». Es wäre um Drogen gegangen und Francis dabei offenbar ein Dealer oder Kurier geworden. Da hätte er ungleich mehr verdienen können, auch direkt Cash bekommen.

Natürlich hätte Francis diesen Schritt nicht tun wollen, genau das hatte er sich nach der Begegnung mit seinem Vater vorgenommen – aber er hätte nun mal dringend das Geld für die Medikamente seiner Mutter gebraucht, die inzwischen völlig am Ende gewesen wäre. Und auch, um wenigstens mal zu Besuch nach New York zu kommen und seinen Sohn John nach Ewigkeiten wiederzusehen.

Francis hätte also widerwillig zugestimmt, aber weiter nach Auswegen gesucht. Doch seiner Mom wäre es immer schlechter gegangen, sie hätte sich nur noch als Belastung für ihn empfunden und wäre suizidal gewesen. Und die Schulden seit dem Unfall wären erdrückend geworden, viele unbezahlte Rechnungen. Man hätte ihnen den Strom abgestellt, nachts alles finster. Eines Abends wäre dann das Auto wie angekündigt in den Trailerpark gefahren und hätte mit knirschenden Reifen auf Tobys Grundstück gehalten. Scheinwerferlicht, Gemurmel. Francis hätte durch das Küchenfenster des Trailers die Szene beobachtet. Toby hätte in seine Richtung geblickt und nach ihm gerufen.

«Ich komm gleich», hätte Francis geantwortet – und dabei wie schon das ganze Buch hindurch hektisch ein paar Lose freigerubbelt, nun im Licht des Scheinwerfers von draußen. Ein armer Teufel mit der sinnlosen Hoffnung auf plumpes, schieres Glück. Etwas anderes hätte er nicht mehr gehabt. Wieder hätte er aus dem Küchenfenster gesehen. Nur noch sechs Lose, dann fünf, dann vier. «Bin gleich da!» hätte er noch mal rausgerufen – und währenddessen in der dunklen Küche auch die letzten Lose freigerubbelt, ohne, dass wir gesehen hätten, wie es ausgeht.

Ende.

Im gedruckten Buch fanden viele Francis am Ende zu negativ und hoffnungslos, und das kann ich verstehen, denn so geht es mir manchmal auch mit ihm. Doch das Leben in den USA, mit seinem teils katastrophalen Gesundheitssystem, Millionen von obdachlosen Kindern und noch mehr durchs Raster gefallenen Menschen ohne jede Stimme und Perspektive, kann hart und ungerecht sein. Ein Studium und der soziale Aufstieg wären damals schwierig geworden für einen nicht unklugen, aber auch nicht übermäßig begabten Trailerparkjungen wie Francis, der sich zugleich allein um um seine Mutter kümmern muss. Beim Schreiben las ich verschiedene Artikel über junge Menschen, die sich freiwillig für den Krieg meldeten und dabei über ihre oft ähnlich gelagerten Gründe sprachen. Deshalb nannte ich das letzte Kapitel bewusst Amerika. Ich wollte nicht, dass ein hypothetischer US-Teenager, der in Armut lebt und mit solchen Problemen kämpft, sich beim Lesen nicht ernstgenommen gefühlt hätte. Das Buch sollte kein Hollwood-Märchen werden, in dem Wille und gute Vorsätze allein reichen.

Und so ist Fast genial vielleicht die einzige Geschichte, in der ich die Negativismen siegen ließ. Menschen machen – wie auch Anne-May im Roman sagt – anders als im Film eben nicht immer eine zufriedenstellende Entwicklung durch, bleiben stattdessen oft in ihren Mustern gefangen und wiederholen manche Fehler wieder und wieder, hier etwa der manische Spieler im Casino. Auch deshalb bin ich froh, dass der jetzige Schluss positiver ist – und offener.

Ich konnte bestimmen, wie die Geschichte im Buch endet, aber nicht, wie sie danach in den Köpfen der Lesenden weitergeht. Meine Meinung über den Fortgang ist deshalb auch nicht mehr wert als die von allen anderen, die es lesen. Die Antwort ist also nicht Rot oder Schwarz, die Antwort ist die jeweilige Phantasie der Menschen, die das Buch gerade zuklappen, ob nun wütend oder zufrieden.

Und so versöhnte mich der Schluss immer wieder mit diesem schwierigen Roman. Fast genial rettete mich zudem nach dem Flop mit Spinner, auch deshalb verdanke der Geschichte viel. Aber vor allem bleibt mir die Reise durch Amerika selbst, die ich dafür machte. Die zwei unvergesslichen Fahrten mit dem Schiff über den Ozean, das Unterwegssein mit guten Freunden, die nächtlichen Gespräche und das Gelächter im Motel. Eines der größten Abenteuer meines Lebens – und mit ihm die Erkenntnis, dass selbst so ein Schisser wie ich so eine Reise machen kann, wenn man sich nur überwindet.

Ein typisches Vierer-Hotelzimmer, wie wir es damals oft unterwegs hatten. Das Foto schoss unsere gemeinsame Mitschülerin und meine Partnerin in Crime im Casino (um Persönlichkeitsrechte zu wahren, sind drei alternative Cover von „Fast genial“ zu sehen. Die Suche nach dem richtigen Motiv dauerte damals ewig, bis wir endlich auf das schöne Bild von David Hockney stießen).