Filme statt WM

Heute beginnt die Weltmeisterschaft in Katar, die von der FIFA vorab als «beste aller Zeiten» bezeichnet wurde. Zu diesem Turnier dürfte in den letzten Wochen schon alles geschrieben worden sein. Über die inzwischen schon übliche Bestechung der FIFA-Exekutiven bei der Vergabe und ein Gastgeberland, das Homosexualität unter Strafe stellt, Sportswashing betreibt und die Rechte von Frauen beschränkt. Aber auch über die Tatsache, dass nun Tore in denselben Stadien bejubelt werden, bei deren Bau immer wieder Arbeiter starben.

Die Zahlen gehen – je nach Quellen – von mutmaßlich bis zu hunderten oder noch mehr Menschen aus ärmeren Ländern wie Nepal, Bangladesch und Pakistan aus, die bei schlechtesten Bedingungen und Hitze ihr Leben ließen. Unzählige weitere bekamen zudem einen «natürlichen Tod» attestiert, obwohl sie noch keine vierzig Jahre alt waren, andere Todesfälle wurden gar nicht erst aufgeklärt und untersucht – so dass die Dunkelziffer erheblich höher liegen könnte. Wir werden nie wissen, wie viele Menschen wirklich starben, damit nun vier Wochen lang eine WM-Party gefeiert werden kann, und das ist vielleicht das Schlimmste an dieser Debatte.

Ich kenne viele, die den Sport und das Drumherum trennen können und sich die Spiele trotzdem ansehen, und das ist völlig legitim. Ohnehin wird ein privater Protest nichts verändern. Doch zugleich ist in unserer heutigen Zeit Aufmerksamkeit die höchste Währung, und genau diese möchte ich der korrupten FIFA und diesem Turnier verweigern. Denn ja, der Fußball gehört allen, ob in Afrika, Amerika, Europa, Asien oder in den arabischen Ländern, und es stimmt, dass gerade wir Europäer*innen demütig sein sollten angesichts unserer schwierigen eigenen Geschichte. Aber umso wichtiger ist es, sich nun zu diesen mühsam errungenen Werten und Menschenrechten zu bekennen und Farbe zu zeigen, statt kritiklos zu verstummen.

Der Entschluss, die WM als Fan zu boykottieren, stand aus den obigen Gründen schon seit Jahren, nicht erst seit den erneut beschämenden Aussagen des FIFA-Präsidenten Gianni Infantino, der längst selbst in Katar lebt, oder dem verstörenden Interview eines offiziellen katarischen WM-Botschafters, der kürzlich Homosexualität mit einer Geisteskrankheit verglich (während des Turniers kam auch noch diese zynische Äußerung des WM-Chefs Nasser Al-Kha­ter hinzu).

Mich überraschte nur, wie leicht mir diese Entscheidung gefallen ist. Denn der Fußball bedeutete mir mein Leben lang viel und gab mir in schwierigen Phasen in der Kindheit und Jugend Halt.

Noch heute ist mein Kopf mit unnützem Wissen vollgestopft («Wer schoss zwei Freistoßtore beim 3:1 von Hansa Rostock gegen Dynamo Dresden im entscheidenden Spiel um die letzte Meisterschaft in der DDR-Oberliga? – Juri Schlünz!»). Und so muss ich auch zugeben, dass ich keinen kompletten Entzug hinkriege. Stattdessen habe ich zuletzt oft daran gedacht, wie ich als Zehnjähriger die WM 1994 in den USA ansah und zum Fan wurde. Da ich ein kicker-Abo habe, fing ich irgendwann sogar an, online alte Ausgaben von damals nachzulesen – wie ein zittriger Raucher, der aus alten Kippenresten noch eine letzte Zigarette baut.

Tatsächlich war es für mich interessant, zur Stimmung Mitte der Neunzigerjahre zurückzukehren. Zu einem Sport, der erst an der Schwelle zur heutigen Kommerzialisierung stand und oft noch rührend unbeholfen wirkte, nicht nur in den drastisch ehrlichen Spieler-Interviews. Und zu einer Zeit, in der die längst übliche Viererkette als moderner Schnickschnack aus Italien galt, der laut den meisten Bundesligatrainern den deutschen Verteidigern leider nicht beizubringen wäre (Unterton: zu blöde dafür, würde zu lange brauchen, außerdem wäre ein Spiel ohne Libero «langweiliger»), während die Meisterschaft noch herrlich offen war und der FC Bayern am Ende nur Sechster wurde.

Da dieser Nostalgie-Quatsch aber auch kein gesunder Umgang ist, kommen hier nun stattdessen ein paar Lieblingsfilme für alle, die die WM boykottieren und nach Ablenkung suchen. Schließlich dauert ein Spiel mit Nachspielzeit ebenfalls neunzig bis hundert Minuten – das macht 64 Filme für 64 WM-Spiele (und noch ein paar mehr anstelle möglicher Verlängerungen und der Analysen danach).

Wer zum Beispiel Lust auf einen eher dramatischen Film oder Klassiker hat – wieso nicht unter anderem: Manchester by the Sea // Moonlight // There Will be Blood // Drive // Lost in Translation // Eternal Sunshine of the Spotless Mind // Big Fish // Die 12 Geschworenen // Lady Bird // American Beauty // Prinzessin Mononoke // Into The Wild // The Hand of God // Boogie Nights // Marriage Story // Uncut Gems // Short Term 12 // Beginners // Der Club der toten Dichter // The Farewell // Gegen die Wand // The Fighter // Tiger & Dragon // Casablanca // Gattaca // Y tu mama también // Kleine wahre Lügen // In the Mood for Love // Akira // Prestige // Einer flog übers Kuckucksnest // Die Truman Show // Ein Herz und eine Krone // Call Me By Your Name // Whiplash // The Social Network // Systemsprenger // Once Upon a Time … In Hollywood // Paterson // Parasite // Francis Ha // Moneyball // Aftersun // Good Will Hunting.

Und wer nach einer Komödie oder einem Feelgoodfilm sucht: Almost Famous // Boyhood // What We Do in the Shadows // Before Sunrise // Toni Erdmann // Die Wonder Boys // Absolute Giganten // Stand by Me // Scott Pilgrim vs. the World // The Big Lebowski // Adaptation // Die schönste Zeit unseres Lebens // The Royal Tenenbaums // Coda // Hot Fuzz // The Perks of Being a Wallflower // Der Clou // Adams Äpfel // Catch Me if You Can // Galaxy Quest // Little Miss Sunshine // Eine Klasse für sich // Sing Street // Midnight in Paris // Noises Off! // Silver Linings // 500 Days of Summer // Eins, zwei, drei // Everything Everywhere All at Once // Booksmart // Superbad // Wer früher stirbt ist länger tot // Harry und Sally // The Fantastic Mr. Fox // Alles steht Kopf // Cinema Paradiso.

Und wer trotz WM-Boykotts nicht auf diesen Sport verzichten, aber lieber lesen will, dem sei Ronald Reng ans Herz gelegt, der vielleicht beste lebende Autor von Fußballbüchern. Ob in seinem einfühlsamen Ein allzu kurzes Leben über Robert Enke, das auch in England als Sportbuch des Jahres ausgezeichnet wurde, seiner Abenteuergeschichte der Bundesliga in Spieltage oder zuletzt im erhellenden Der große Traum über drei hoffnungsvolle Nachwuchsfußballer, deren erfüllte und geplatzte Hoffnungen er acht Jahre lang verfolgte. Aber auch das nostalgisch angehauchte Wir gingen raus und spielten Fußball von Andreas Bernard ist sehr zu empfehlen (siehe unten). The Damned United von David Peace dagegen ist ein böser, großartiger Roman, der auf wahren Tatsachen basiert. Wie die Steeple Sinderby Wanderers den Pokal holten von J.L. Carr ein literarisches Kleinod; es ist unmöglich, dieses Buch nicht zu mögen … Und sehr lesenswert ist in jedem Fall auch dieses Interview mit Tabea Kemme.

Ich verstehe den Zehnjährigen jedenfalls gut, der einst so naiv wie enthusiastisch in sein Fanleben aufbrach, der nach Spielen jubelte oder weinte und lange Zeit allen Turnieren entgegenfieberte. Und ich hoffe, er versteht auch mich, wenn ich mich jetzt abwende und etwas anderes mache. Zumindest ein kleines bisschen.

In diesem Büchlein schildert Andreas Bernard Erinnerungen an den Fußball in seiner Kindheit. So einfach, so wahr, so herzerwärmend.