Im August 2011 – kurz nach Erscheinen meines dritten Romans Fast genial – machte eine Sonntagszeitung öffentlich, dass ich unter dem Namen Benedict von Schirach geboren worden und der Bruder der Philosophin Ariadne von Schirach und Neffe des Schriftstellers Ferdinand von Schirach sei. Das ist nur zum Teil richtig, er ist mein Cousin. In dem Artikel stand auch, ich habe meinen Nachnamen geändert. Das stimmt.
Mein deutscher Großvater Baldur von Schirach war während der NS-Zeit Reichsjugendführer; ein überzeugter Antisemit, der später als Gauleiter von Wien u.a. für die Deportation der dortigen jüdischen Bevölkerung in Konzentrationslager verantwortlich war. Er starb zehn Jahre vor meiner Geburt. Seine Worte machen mich wütend und erfüllen mich mit Scham, seine entsetzlichen Taten verurteile ich mit allem, was ich bin. Das von ihm verursachte Leid hält bis heute an und schmerzt mich zutiefst. Ich wollte nicht den Namen eines Menschen tragen, der sich solcher Verbrechen schuldig gemacht hatte und der auch nach dem Krieg keine für mich nennenswerte Reue zeigte. Und ich wollte nicht nach meinen Vorfahren, sondern nur nach mir selbst beurteilt werden und zeigen, dass ich für etwas Anderes stehe. Also tat ich etwas, das mir stärker schien als Worte.
Nach der Schule ging ich zum Standesamt und ließ meinen Namen ändern. «Wells» ist somit kein Künstlername oder Pseudonym, sondern mein offizieller amtlicher Nachname. Später habe ich unter ihm meine Bücher veröffentlicht, ich zahle unter ihm meine Steuern, und wenn ich mal Kinder haben sollte, könnten sie ebenfalls Wells heißen. Meine Familie hat mich bei dieser Entscheidung sehr unterstützt, so zum Beispiel meine Eltern, meine Schwester Ariadne und mein Cousin Ferdinand. Die Wahl des Namens ist eine Hommage an John Irving, der mich zum Schreiben inspirierte, und an seinen Homer Wells aus dem Roman Gottes Werk & Teufels Beitrag.
Nachdem mein Geburtsname bekannt geworden war, gab es diverse Interviewanfragen dazu. Ich sagte alle ab, ich wollte als Schriftsteller unabhängig bleiben – und mit dieser zusätzlichen Aufmerksamkeit keine Bücher bewerben. Sehr dankbar bin ich deshalb, dass bis heute die meisten Texte und Rezensionen ohne Verweis auf meine Familie oder meine schreibende Verwandtschaft auskommen und meinen Wunsch nach Eigenständigkeit respektieren. Doch als ich anlässlich der Übersetzungen meines letzten Romans im Ausland wiederholt danach gefragt wurde, ist mir klargeworden, dass ich meine Beweggründe auch auf Deutsch deutlich machen möchte.
Meine Namensänderung ist nur die Spitze des Eisbergs, nur der nach außen sichtbare Teil meiner lebenslangen Verantwortung und Auseinandersetzung mit dieser familiären Schuld. Dabei gibt es neben Wut und Scham vor allem Trauer und das Mitgefühl mit den Opfern und deren Angehörigen. Und es gibt das stete Bemühen, sich in andere hineinzuversetzen, sowie ein tiefes Bewusstsein dafür, dass wir Menschen – egal woher, egal welchen Glaubens oder welcher Hautfarbe –, einzigartig und doch alle gleich sind. Das ist es, was sich in vielen meiner Geschichten findet. Und das ist es, wofür ich eintrete.
Benedict Wells, Oktober 2017
Nachtrag: Jahre später ging ich in einem Podcast-Gespräch noch mal deutlich ausführlicher auf meine familiäre Herkunft ein (bei rund 2 Stunden 26 Minuten). Wer möchte, kann es hier nachhören.