Barcelona, ein Fest fürs Leben

Dieser Text erschien zuerst in der Anthologie Gefährliche Ferien im Diogenes Verlag.

 

Es gab einen Moment auf meinen ersten Lesereisen, da saß ich nach der Veranstaltung mal wieder allein im Hotelzimmer und schaute fern. Es kam eine nächtliche Wiederholung von L’Auberge Espagnole, dem Film über einen französischen Erasmusstudenten, der nach Barcelona in eine verrückte WG zieht, dort Freunde findet, sich verliebt und eines der besten Jahre seines Lebens hat. Ich aß Snacks aus der Minibar, sah zu und begriff, was mit meinem Leben als sogenannter «Jungautor» nicht stimmte: so ziemlich alles.

Ich hatte nach der Schule nicht studiert, sondern tagsüber gearbeitet und nachts geschrieben. Während meine Freunde auf Partys gingen und sich ins Studentenleben stürzten, war ich als einziger in das damals noch als uncool geltende Berlin gezogen, um in einer Einzimmer-Bruchbude zu hausen, mit Dusche in der Küche und teils ohne Strom. Und während meine alten Mitschüler sich im Laufe der Jahre zerstritten, verliebten, Drogen nahmen oder über ihr Studium schimpften, bekam ich eine Verlags- und Agenturabsage nach der anderen und tigerte um drei Uhr morgens durchs Zimmer, fieberhaft überlegend, wie ich meine Bücher besser machen konnte. Dabei vereinsamte ich zusehends; ohne meine Fußballmannschaft oder einen späteren Nebenjob mit vielen KollegInnen wäre ich wohl eingegangen.

Als ich nach Jahren endlich einen Agenten und einen Verlag fand, war das nicht nur schriftstellerisch eine Erlösung. Vor allem hoffte ich darauf, nun meine Studentenzeit nachholen zu können, insgeheim vielleicht auch auf einen Hauch von Rockstarleben. Die Realität sah dann so aus: Statt allein in meinem Zimmer, saß ich auf Tour allein in irgendwelchen Hotels in Norddeutschland und auf der schwäbischen Alb. Tagsüber fuhr ich mit dem Zug von einem Ort zum nächsten, abends stand ich vor fremden Menschen im Mittelpunkt, ehe ich mich gegen Mitternacht im leeren Hotelzimmer wiederfand, eine Art Abklingbecken zum Runterkommen. Manchmal konnte ich nicht einschlafen, dann las ich Artikel, die über meine Bücher geschrieben worden waren. In diesem Trubel wurde ich selten – am wenigsten von mir selbst – als das wahrgenommen, was ich war. Ein ganz normaler Mittzwanziger, der keine Ahnung hatte, wo sein Platz war.

Und dann kam L’Auberge Espagnole.

Ich sehnte mich nach allem, was ich dort sah. Nach den Freunden, nach der Liebe, nach der Ausgelassenheit. Nach dem Gefühl, wenigstens für ein Jahr am richtigen Ort zu sein. Nachts im Hotelzimmer begriff ich, dass das alles gerade noch möglich war. Ich könnte mein bereits angekündigtes drittes Buch verschieben und ausbrechen, nach Spanien ziehen, darüber nachdenken, was für ein Schriftsteller ich eigentlich sein wolle. Aber vor allem könnte ich einfach leben, was immer das bedeutete.

Ich rief beim Verlag an und verschob meinen Roman um ein Jahr, dann suchte ich nach WGs in Barcelona. Meine inneren Zweifel und Ängste waren groß. Ich sprach kein Wort Spanisch, war vielmehr der klassische Typ «Schisser» und traute mir nicht ansatzweise zu, in der Fremde zu überleben. Aber ich war entschlossen, es zu probieren und notfalls nach zwei Monaten wieder zurückzukehren. Und da ich über die Stadt von allen Seiten nur Gutes gehört hatte, fühlte es sich fast wie ein Experiment an: entweder würde ich der erste Mensch in der Geschichte werden, dem Barcelona nicht gefällt. Oder ich würde es wie alle anderen lieben.

Mit dem Nachtzug kam ich Anfang 2010 an, und nie werde ich vergessen, wie ich das erste Mal durch die gewundene Altstadt spazierte, mich dann in ein Strandcafé setzte, Kaffee trank, das Meer in der Sonne glitzern sah und dachte: «Ja, hier bist du richtig.»

Ich zog in eine 3er-WG und ging täglich in die Sprachschule, ein «Curso Intensivo» in Spanisch, der auch dringend nötig war, kannte ich bisher nicht mal das Wort «Hola». Mein Tag: Aufstehen nach einer durchfeierten oder durchgeschriebenen Nacht um halb eins mittags. Ein immer zu dünner Wasserstrahl aus der Dusche, ein kurzes Hallo mit meiner im besten Sinn wilden weißrussischen Mitbewohnerin, die als Touristenführerin ständig die faszinierendsten Menschen bei uns anschleppte, oder mit meiner deutschspanischen Mitbewohnerin, die jobbte und Mode designte, vielleicht auch noch ein Streichler für den Kater, der bei uns lebte. Mein Zimmer: eine runtergekommene Kammer, die nicht mal eine richtige Tür hatte. Durch das Verschieben meines Romans war ich pleite und hatte zeitweise nicht mal eine Versicherung, musste für einen Arztbesuch deshalb ins Armenkrankenhaus. Aber in Barcelona lernte ich, wie wenig ich brauchte. All meine Klamotten, Bücher, Filme, sonstigen Sachen: irgendwo in Deutschland, nur Ballast. Das hier war ohnehin keine Stadt für Stubenhocker, man war fast immer draußen, Geld oder einen Flachbildschirm hatten die wenigsten. Wichtig war nur ein Fenster.

Auf der Straße streckte ich mich und schaute ins endlos blaue Licht, die Sonne hoch am Himmel – fast jeder Tag begann hier in beschwingtem Dur, selbst im Winter. Meistens holte ich mir einen «Café con Leche» und lief musikhörend durch mein Viertel, das Raval, zur Sprachschule, wo ich euphorisch begrüßt wurde, wenn ich ausnahmsweise mal nur zehn Minuten zu spät war. Meine Mitschülerinnen und Mitschüler waren aus Kuwait, Brasilien, Italien, Israel, Japan, Estland, Deutschland, Amerika, Frankreich; es war vollkommen egal, woher man kam. Wir wurden die besten Freunde, die man in einem Jahr werden kann, wir feierten und tranken in alten Fabriken am Stadtrand und auf Hausdächern, kochten zusammen und führten unzählige Diskussionen, erwarteten kiffend am Strand den Sonnenaufgang, und in den Unterrichtsstunden – als Erwachsene in einer Schule – alberten wir oft herum und brachen in teils hysterisches Gelächter aus. Wir waren lebende Klischees dieser Stadt, und genau das wollten wir sein, alterslos und ereignishungrig, denn wir saßen alle im selben Boot. Hörte man in einer Bar jemand Fremdes Deutsch reden, blieb man nicht verschlossen, sondern fragte sofort: «Aus welcher Stadt kommst du? Was machst du hier?» Dauernd lernte man neue Menschen kennen, mal für kurz, manchmal für länger.

So ziemlich alles, was ich erhofft hatte, wurde wahr. Ich blieb erst ein Jahr, dann zwei, dann drei, und in dieser Zeit wandelte sich auch mein Leben in Barcelona. Anfangs war ich wie ein Passagier in einer Bahnhofshalle gewesen, umgeben von tausenden anderen Menschen auf der Durchreise, alles großartig, intensiv und sehr, sehr flüchtig. Am Ende war es dann mehr wie in der Serie «Friends». Eine Gruppe von sechs, sieben engen und verschworenen Freunden, mit unserer WG als Drehort.

Es verging kaum noch ein Tag ohne Überraschungen oder Erlebnisse, kaum ein Tag, an dem ich aufstand und nicht am Küchentisch wie selbstverständlich Freunde von uns entdeckte, oder auch verrückte und interessante Bekannte, die ich noch nie gesehen hatte. Etwa die beiden kasachischen Kumpels, die mit einem alten Krankenwagen durch Europa fuhren, die absurdesten Geschichten erzählten und mit denen wir nachts in einer Bodega versackten und «Panthermilch» tranken. Die fast surreal schöne Russin, die plötzlich auf der Couch vor meiner Tür saß, so dass ich noch mal schnell in mein Zimmer zurückhastete und meine vom Schlaf zerwühlten Haare richtete. Die Südamerikaner, die immer wieder für ein paar Tage bei uns wohnten, so wie überhaupt jeder seine Freunde mitbringen konnte, selbst wenn die Wohnung noch so überfüllt war. Alles war wie LEGO; miteinander kompatibel und trotzdem frei. Und irgendwann, als ich mal wieder mit einer bunten Gruppe auf irgendeinem Balkon stand, Calzots grillte und mich in Spanisch über einen neuen Geheimclub reden hörte, dachte ich erstaunt, dass man wirklich nicht der war, für den man sich hielt. Man war das, was man tat. Man konnte sein Leben ändern und sich überraschen, zumindest für eine kurze Zeit.

Nach dreieinhalb Jahren zog ich weg. Ich kann nicht sagen, was genau der Grund war. Vielleicht weil ich das Gefühl hatte, dass die Zeit in Barcelona etwas zu schnell verging, man einmal mit dem Finger schnippte und plötzlich Ende dreißig war. Weil gleich zwei unserer Freunde nach Mexiko und Italien zogen und eine Ära endete. Weil die politische Situation um die katalanische Frage sich zunehmend zuspitzte. Weil ich, mutig geworden, nach Barcelona auch noch ein paar Monate in Frankreich leben wollte. Letztlich war es eine Mischung aus allem, die mich dazu bewog, weiterzuziehen. Ich suchte noch mal ausgiebig meine liebsten Bars, Restaurants und Orte auf, dann verabschiedete ich mich von der Stadt und – noch viel schmerzhafter – von meinen Freunden. Als ich mit ihnen am Bahnsteig stand, wir uns umarmten und verstohlen ein paar Tränen wegwischten, dachte ich daran, wie ich hier vor Jahren angekommen war, allein, nur mit einer Tasche und ein paar unrealistischen Vorstellungen im Kopf; jetzt war er gefüllt mit Szenen, Gefühlen und Abenteuern.

Der Zug fuhr los, ich sprach mit den anderen Reisenden im Viererabteil, es war lustig, es war egal. Nachts lag ich stundenlang wach und war wehmütig, weil ich zu ahnen begann, nein, weil ich wusste, was ich hinter mir ließ. Ich sah wieder vor mir, wie mir mal eine Mitschülerin vom Sprachkurs am Strand ein paar Tanzschritte beibrachte. Sah den uralten, kleinen Wandtresor in meinem Zimmer, den wir in all den Jahren nicht knacken konnten, obwohl wir uns oft vorstellten, welche Schätze sich darin verbargen. Sah mich in unserer WG am Tisch sitzen, in großer Runde beim Abendessen und mit Gelächter oder im kleinen Kreis mit intimen Geständnissen, sah uns in der ersten Morgendämmerung durch regenfeuchte Gassen schlendern, Pläne schmiedend, die Nacht rekapitulierend …

Nach Barcelona zu gehen war die beste Entscheidung, die ich je traf, es war ein Filetstück in meinem Leben, der Gegenbeweis für meine sonst geisterhafte, zurückgezogene, schreibende Existenz, ein Wunder. Nie wieder würde ich solche wilden, intensiven Jahre vor mir haben, mit diesen innig geliebten Freunden, nie wieder würde ich so jung und so mittendrin sein. Das alles war für immer vorbei, und anders als beim Schreiben blieb nichts davon, außer der Erinnerung. Aber anders als beim Schreiben kann ich sagen: Ich habe es erlebt.

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