Ein aktueller Text gegen Antisemitismus findet sich hier.
Das Folgende ist ein Auszug aus einem Text, den ich am 6. November 2018 rund um eine Veranstaltung zugunsten von Sea Watch schrieb:
… Der Grund meiner Teilnahme ist simpel: Es gibt in einem Land mit achtzig Millionen Einwohner*innen zwangsläufig sehr viele Meinungen über die Situation der Geflüchteten in ihren Ursprungsländern und an den Grenzen. Und es gibt sicher ebenso viele Meinungen darüber, was mit den im Mittelmeer geretteten Menschen passiert. Aber es kann nicht ernsthaft auch nur zwei Meinungen geben, ob man einem im Meer ertrinkenden Menschen helfen sollte, und es ist zynisch und entgegen der Menschenwürde, darüber auch nur zu diskutieren.
Diesen Gedanken hatte ich schon die ganze Zeit, laut geäußert habe ich ihn bisher nie. Er kam mir schlicht selbstverständlich vor, außerdem wurde zu diesen Themen gefühlt bereits alles gesagt. Aber diese Haltung ist falsch. Eine Meinung bringt nichts, wenn man sie für sich behält, Bedeutung erhält sie erst, wenn sie sich in Worten und Taten äußert. Und das Selbstverständliche muss schon deshalb immer wieder betont werden, weil es inzwischen nichts Selbstverständliches mehr gibt (mein kleiner Post vor der letzten Wahl wirkt bereits antiquiert).
Wir leben in Zeiten, in denen Migranten durch die Straße gejagt werden. In denen jüdische Restaurants und Cafés angegriffen werden und Antisemitusmus zunimmt. In denen parallel dazu Politiker wie der AfD-Vorsitzende die NS-Zeit als „Vogelschiss“ bezeichnen und den Holocaust verharmlosen. In denen Unsägliches wieder gesagt wird und der Nationalismus europaweit Stimmen gewinnt, als brächte er nicht beständig Ausgrenzung und Leid. In denen in Bayern der „christlich-soziale“ Ministerpräsident ungeachtet der Schicksale von vielen Geflüchteten von „Asyltourismus“ spricht, während der Chef des Deutschen Theaters in München Özil rät, er solle sich „nach Anatolien verpissen“. Und in denen sich der deutsche Innenminister nicht entblödet, an seinem 69. Geburtstag Witze über 69 abgeschobene Afghanen zu machen, und die Migration die „Mutter aller Probleme“ nennt – obwohl in diesem Land fast zwanzig Millionen Menschen mit Migrationsgeschichte leben. Menschen, deren überwältigende Mehrheit friedlich ist, und von denen viele zu unserer toleranten, vielfältigen und zukunftsträchtigen Gesellschaft beigetragen haben, um die es sich so zu kämpfen lohnt.
Ob man will oder nicht, diese fast minütlich getakteten Schlagzeilen und populistischen Äußerungen sickern in die Gedanken und trüben den Blick. Sie erzeugen ein Gefühl von Lähmung und Wut und zeichnen ein Zerrbild der Realität, als würde es – bei allen bestehenden Problemen und immer wieder erschütternden Einzelmeldungen – diesem Land so schlecht gehen wie seit Jahrzehnten nicht mehr oder die Kriminalitätsrate in ungeahnte Höhen schießen (tut sie nicht). Und: Sie spalten. Schon vor Jahren sagte mir jemand: „Das Problem ist, dass viele in Wahrheit einfach nur dem politischen Mainstream folgen. Der war bisher liberal, doch wenn er wieder nach rechts rutscht, dann wird’s bitter.“ Was das bedeutet, erleben wir gerade bei fast jeder Wahl, weltweit.
Wir sollten uns deshalb nicht darauf verlassen, dass „wir“ wirklich mehr sind – vielmehr kommt es auf jede*n einzelnen an. Was nützt auch eine Mehrheit, die schweigt?
Daher bin ich froh über jeden Christian Streich, der sich empathisch gegen rechte Hetze ausspricht. Über jeden Jonas Lüscher, der friedlich zu Demonstrationen für ein geeintes Europa und gegen Nationalismus aufruft, sowie über alle, die wie zuletzt in München auf die Straße gehen und sich gegen rechte Hetze engagieren. Über die MusikerInnen, die in Chemnitz beim Konzert gegen Ausländerfeindlichkeit auftraten oder sich später mit dieser Bewegung solidarisierten. Über eine frühere Lehrerin von mir, die an ihrer Schule versucht, junge Leute für diese Themen zu sensibilisieren. Über alle, die abseits der Öffentlichkeit Zivilcourage zeigen und nicht stumm bleiben, wenn jemand im Gespräch etwas Rassistisches oder Antisemitisches sagt. Alle, die sich nicht von Angst beirren lassen, sondern sachlich argumentieren, konstruktive Lösungen für Konflikte suchen und um etwas Positives, Einendes ringen.
Jedes einzelne dieser Zeichen hat mich ermutigt, auch das möchte ich nicht länger für mich behalten. Was früher als wohlfeil oder naiv belächelt wurde, sind in diesen Zeiten dringend benötigte Impulse und Lichtpunkte. Rechtspopulisten brauchen und suchen immer das Destruktive, den Feind. Sie pauschalisieren Menschengruppen und nähren sich von jedem Klick und Blick auf ihr spalterisches Gerede – doch wie schön wäre es, mal nicht nur das zu betrachten, was uns trennt, sondern das, was uns verbindet?
Denn die simplen Lösungen, die der Populismus verspricht, gibt es in einer komplexen, globalisierten Welt nicht, doch was es gibt, ist die innere Haltung, ist das Bemühen um ein Miteinander, gerade auch in schwierigen Situationen. Und vor allem gibt es ein Empfinden dafür, dass wir alle zwar einzigartig und unterschiedlich sind in unseren Fehlern, Stärken, Ideen und Ansichten, aber als Menschen dennoch gleich, egal welche Hautfarbe, Nationalität oder Religion wir haben.
Ich schreibe das nicht als Autor, sondern als jemand, der wie viele nur zu gut das Gefühl kennt, abzustumpfen, angesichts der weltweiten Schwemme besorgniserregender Nachrichten. Und ich habe lange mit diesem Text gehadert, denn er ist zugegeben kaum originell oder neu. Aber die Alternative wäre, nichts zu sagen und sich seiner Verantwortung zu entziehen. Wir dürfen jedoch nicht die Flucht ins Private antreten. Stattdessen ist es gerade jetzt wichtig, sich sichtbar zu machen und miteinander offen und konstruktiv zu debattieren. Um Zuversicht zu ringen.
Und stets aufs Neue klar Stellung gegen Rassismus, Antisemitismus und Hass auf Muslime zu beziehen.
Denn wo man auch hinschaut, wird Angst gesät und Hass geerntet, doch was wir brauchen, ist ERMUTIGUNG und, so dämlich es klingt, für jeden Kopf im Sand eine Hand, die ihn entschlossen wieder rauszieht, und für jedes zynische Abwinken und resignierte Schweigen ein Bewusstsein, das erwacht, und eine Stimme, die sich hebt. „The times, they are a-changin‘“, immer wieder. Und auf dem Spiel steht gerade vieles, wenn nicht alles: Menschenwürde, Empathie und Mitgefühl, Anstand, Toleranz, sachliches Argumentieren trotz unterschiedlicher Meinungen, Demokratie, die europäische Gemeinschaft, Frieden. Es sind die Errungenschaften unserer Gesellschaft, die angegriffen werden, und die wir leidenschaftlich verteidigen müssen.
Und zwar jede und jeder einzelne von uns.
Ein Nachtrag aus traurigem Anlass findet sich hier.
Eine Einschätzung zur AfD nach den Wahlen 2019 hier.