Was ich gern schon mit 15 gewusst hätte

2016 schrieb ich für das ZEIT-Magazin einen kleinen Text, der sich darum drehen sollte, was man gern als Jugendlicher gewusst hätte. Er ist inzwischen online und nun in seiner vollen Länge hier:

 

 

Mit 15 habe ich nur meine Schwächen und Unzulänglichkeiten gesehen. Lief ein Gespräch mit einem Mädchen nicht gut, lag es nur an mir; ich wäre gar nicht auf die Idee gekommen, dass das Mädchen vielleicht ebenfalls schüchtern war oder wir einander einfach nicht viel zu sagen hatten. Ich wünschte, ich hätte damals meine Stärken nicht immer kleingeredet. Viele Mitschüler wirkten im Vergleich sicherer, doch gerade die selbstbewusst auftretenden Jungen in meiner Klasse hielten oft keine Stille aus, flüchteten sich in Lärm und Partys. Ich hätte gern gewusst, dass auch sie ihre Unsicherheiten hatten und sie nur besser verbargen.

Heute glaube ich, dass es darauf ankommt, Menschen und Orte zu finden, die einem guttun. Es gibt Leute, die fühlen sich in einem Club zu Hause, während andere dort bloß in der Ecke stehen. Kein Problem, dafür leben sie eben bei einem Abend mit Freunden auf. Und genauso wirkt man mit manchen Menschen langweilig und klein, mit anderen interessant und lustig. Jeder hat seine Stärken, und jeder hat seine Fehler.

Mit 15 hatte ich auch das Gefühl, alles würde für immer so bleiben. Ich würde immer schüchtern sein, immer vor mich hin träumen und nie im Ausland leben, weil ich so etwas eben nicht könnte. Ich hatte keine Ahnung, wie sehr man sich im Laufe eines Lebens ändern kann. Dass man mit 30 über diese Vorstellungen lächelt, dass nichts für immer ist, sondern dass man schlechte Erlebnisse und auch störende Eigenschaften überwinden kann.

Inzwischen würde ich sagen: Man ist nicht der, als den die anderen einen sehen, aber auch nicht unbedingt der, als den man sich selbst sieht. Man ist vor allem das, was man tut. Ich hätte zum Beispiel nie gedacht, dass ich – Typ Schisser – mal jemand sein würde, der mit dem Schiff nach Amerika oder mit dem Zug nach China fährt oder der, ohne ein Wort Spanisch zu sprechen, nach Barcelona zieht. Ich habe es letztlich einfach getan, gegen meine Ängste und Zweifel und oft zu meiner eigenen Überraschung. Und so wurde ich durch diese Taten erst zu der Person, die so etwas macht.

Mit 15 begannen auch die Fragen danach, was man später mal werden will. Ob Verwandte, Freunde, Bekannte, fast nie hat einer gesagt: „Sei mutig, ich vertrau dir!“ Es hat auch keiner gesagt: „Scheiß drauf, was die anderen sagen. Denk dir einfach dein 80-jähriges Ich, das aufs Leben zurückblickt: Was hättest du gern getan als junger Mensch? Was waren deine Träume? Und dann mach einfach, und lass dich davon von niemandem abbringen. Denn du bist nach der Schule so frei wie nie wieder in deinem Leben.“

Stattdessen haben einem alle eingeredet, man solle erst einmal „etwas Sicheres“ machen. Aber so entsteht nichts. So werden keine Bilder gemalt, keine Songs geschrieben, keine Abenteuer erlebt, keine Erinnerungen geschaffen. Was man immer wieder aufschiebt, macht man oft nie mehr, und kaum etwas ist schlimmer, als irgendwann dazusitzen und sich voller Bitterkeit zu fragen: „Warum hab ich es damals nicht wenigstens versucht?“

Denn wie sehr quält einen noch Jahre später der Gedanke an die Frau oder den Typen, den/die man aus Feigheit nicht nach der Nummer gefragt hat. Und wie oft denkt man an die Reise mit Freunden, die man immer machen wollte – und dann musste man studieren oder arbeiten und kam nie mehr dazu. Man ist selbst dafür verantwortlich, diese Dinge zu tun, es ist später kein Trost, wenn die anderen sie auch nicht getan haben.

Die oft gut gemeinten Ratschläge von Erwachsenen sickerten jahrelang in uns ein, sodass sich unsere Träume und Ziele nach der Schule auf einmal wahnsinnig anfühlten. Ich selbst zum Beispiel wollte nicht gleich studieren, sondern erst einmal arbeiten und in meiner Freizeit schreiben. Mir einfach eine Chance als Schriftsteller geben, sagen wir: zwei Jahre. Danach hätte ich ja immer noch zur Uni gehen können. Es ist unfassbar, wie viele Menschen mir diesen eigentlich harmlosen Plan ausreden wollten. Der Druck, sich anzupassen und etwas Sicheres zu machen, war auch für meine Mitschüler spürbar. Viele fingen aus Angst an, sofort irgendwas zu studieren, brachen nach zwei, drei Jahren ab und machten danach etwas völlig Anderes. Was hätten sie in der Zeit nicht alles tun können, aber es schien zu wichtig, keine Lücke im Lebenslauf zu haben.

Doch Jahre später – etwa beim zehnjährigen Klassentreffen – interessierte es plötzlich keinen mehr, was man in der ersten Zeit nach der Schule getan hatte. Der Druck, den wir damals alle gespürt hatten, wirkte mit einem Mal lächerlich, es blieb nur das Bedauern über verpasste Chancen und verlorene Zeit.

Auch das hätte ich gern schon mit 15 gewusst.

(Das Bild oben ist aus der großartigen Romanadaption von „The Perks Of Being A Wallflower“, die auch einen der besten Schlussmonologe überhaupt hat: „Because I know there are people who say all these things don’t happen. And there are people who forget what it’s like to be sixteen when they turn seventeen. I know these will all be stories some day, and our pictures will become old photographs. We all become somebody’s mom or dad. But right now, these moments are not stories. This is happening. I am here, and I am looking at her. And she is so beautiful. I can see it. This one moment when you know you’re not a sad story. You are alive. And you stand up and see the lights on the buildings and everything that makes you wonder. And you’re listening to that song, and that drive with the people who you love most in this world. And in this moment, I swear, we are infinite.“)