Der Fußball, in den ich mich verliebte

Der Sommer 1994 war einer der großen Sommer meines Lebens. Ich war zehn Jahre alt und stand an einer entscheidenden Schwelle: Von der Grundschule ging es aufs Gymnasium. Ich würde dafür das Heim wechseln müssen, in dem ich die letzten dreieinhalb Jahre verbracht hatte, und auf ein anderes Internat gehen. Wieder eine neue Klasse mit fremden Gesichtern, dazu wäre man in der Schulhierarchie als Fünftklässler vermutlich erst mal ganz unten angesiedelt. Meist freute ich mich auf dieses Abenteuer, manchmal hatte ich auch Schiss.

Das Gute: Bis dahin gab es noch sechs lange Wochen Ferien. Und noch besser: Im finanziellen Auf und Ab meines Zuhauses herrschte gerade ein kostbares Hoch und wir fuhren nach Italien. Ich kann nicht sagen, wie lange wir dort tief im Süden Urlaub machten, vielleicht ein paar Tage, vielleicht auch mehrere Jahre. Zeit spielte keine Rolle mehr, jeder einzelne Tag war apokalyptisch heiß, staubig und unendlich. Ich las zum ersten Mal richtig lange Bücher wie Sturmwind auf Jameika von Richard Hughes, verknallte mich ein winziges bisschen in eine Frau aus dem Ort, und freute mich auf die Abende, wenn es endlich abkühlte und ich mir auf dem Dorfplatz Pizzastücke vom Blech holte.

In diesem Sommer in Italien bekam ich ein erstes Gespür für die Welt. Und noch etwas fand in diesen Ferientagen statt: Ich begann mich zu meiner Überraschung ernsthaft für Fußball zu interessieren. Schon die Weltmeisterschaft in den USA hatte mich in Staunen versetzt. Fast jeden Tag waren im Fernsehen die Bilder der riesigen amerikanischen Stadionschüsseln zu sehen gewesen; das grelle Grün des Rasens und der hellblaue Himmel über den Großstädten, die so klangvolle Namen wie Chicago und New York hatten und die ich bisher nur aus Filmen kannte. Dazu die viel zu weiten Trikots der Spieler mit den fast schon aggresiv bunten Farbmustern.

Das alles faszinierte mich, und auf einmal begannen Namen in meinem Kopf aufzuleuchten, die mir wenige Wochen davor nur ein Schulterzucken entlockt hätten: Lothar Matthäus! Jürgen Klinsmann! Bodo Illgner! Andreas Möller! … Im Fernsehen und in den Zeitungsschlagzeilen wirkten sie wie überlebensgroße Giganten. Und doch hatten sie gegen den Außenseiter Bulgarien mit 1:2 verloren und waren schon im Viertelfinale ausgeschieden. Ich wusste nicht, wieso mich das noch immer so schmerzte, als ich nun in Italien ein fruchtiges Granita löffelte und an einem Spielautomaten Virtua Striker zockte. Ich wusste nur, dass ich all meine silbernen Getoni beim Versuch verlor, die WM am Automaten doch noch zu gewinnen.

Der Moment, in dem das Spiel kippte: Hristo Stoichkov verwandelt einen Freistoß für Bulgarien. Noch stärker erinnere ich mich aber an das WM-Finale, an das kräftige Gelb Brasiliens, das Azurblau Italiens und Roberto Baggios hängenden Kopf nach dem verschossenen Elfmeter.

Später saß ich auf dem Dorfplatz. Ich biss in ein Pizzastück vom Blech und dachte über mein neues Internat und die irrwitzige Menge an Zukunft nach, die vor mir lag. Aber eigentlich blickte ich nur zu den älteren italienischen Jugendlichen, die mit einem Ball kickten. Ich hätte gern mitgespielt, traute mich aber nicht, sie zu fragen, stattdessen sah ich ihnen den ganzen Abend zu; wehmütig und von eigenen Toren und Finten träumend. In diesem Sommer war mit mir das geschehen, was Nick Hornby in seinem berühmten Buch Fever Pitch so zusammenfasste:

»Ich verliebte mich in den Fußball, wie ich mich später in Frauen verlieben sollte: plötzlich, unerklärlich, unkritisch und ohne einen Gedanken an den Schmerz und die Zerrissenheit zu verschwenden, die damit verbunden sein würden.«

Meine verrückten Jahre hatten begonnen.

Was ich damals – als Junge zwischen zwei Schulen – allerdings nicht ahnen konnte, war, dass sich auch der Fußball an einer entscheidenden Schwelle befand. Es stand die Saison 1994/95 an, und die drei Leuchtfeuer der Moderne waren gerade erst am Himmel erschienen oder würden es bald tun: Die schon erfolgte Gründung der englischen Premier League und der lukrativen Championsleague, das bevorstehende Bosman-Urteil, durch dass es u.a. nach Vertragsende keine Ablösesummen mehr für Spieler gab – und nicht zuletzt Nick Hornbys schon erwähnte Bibel über das Fansein, die den Fußball auch unter Intellektuellen und Kulturschaffenden en vogue machte. Das alles sollte diesen Sport für immer verändern.

In Hornbys Buch lag zudem eine Erkenntnis, die nach der Weltmeisterschaft auch für mich wichtig wurde: man kann sich seinen Verein nicht aussuchen, der Verein wird einem gegeben.

Selbst bei Bayern München ist das so.

So wollte ich eigentlich Dortmundfan werden, die eine viel spannendere Mannschaft zusammengestellt hatten. Doch ein Spiel gegen Freiburg und die Intervention meines neuen Zimmernachbarn Alex im Internat machten mich überraschend zum glühenden Bayernanhänger. Immerhin war ich ja auch in München Schwabing geboren, Wiege der Roten, während die Blauen, die verfeindeten Sechziger, aus Giesing kamen. Mit Panini-Sammelbildchen, absurdem Nichtwissen (»Der Matthäus spielt ja bei uns?!«) und grenzenlosem Enthusiasmus brach ich auf in meine erste Saison als Fan – an deren Ende Bayern nur Sechster wurde.

Parallel dazu meldete ich mich in einem Verein in der Nähe meiner neuen Schule an und stürmte und stolperte fortan selbst durch bayerische Strafräume. Damals trug ich meine ersten Fußballschuhe (Copa Mundial) auch in manchen Nächten, weil ich in der Bravo Sport las, das ein Lieblingsspieler das ebenfalls getan hatte. Es war das erste von einigen abergläubischen Ritualen, die ich in den folgenden Jahren hütete. Sie verhießen allerdings nur dann Glück, wenn man mit niemandem darüber sprach – und ließen einen allesamt in den unpassendsten Momenten im Stich.

Meine Hälfte eines Internats-Doppelzimmers in den verrückten Jahren. Damals hängte ich sogar Poster von Spielern auf, die ich nicht mal sonderlich mochte, Hauptsache sie traten ganz okay gegen einen Ball. Dagegen noch sehr ausbaufähig: Das Bücherregal.

Jahrelang war es das Schönste, im Frühling, Sommer und Herbst gleich nach der Schule auf den Platz zu gehen. Dabei schleuderte der Erste den Ball oft noch beim Ankommen weit hinein auf den Rasen, und wir anderen rannten ihm hinterher; ein Chor aus durcheinander wirbelenden Stimmen, aus denen die Vorfreude herausklang. An manchen Tagen war frischgemäht worden, dann roch es herrlich nach Gras, während wir überprüften, ob die Karabiner so fest in die Erde gerammt waren, dass das Netz spannte – und dann kickten, kickten, kickten wir, bis es dunkel wurde oder die Hausaufgabenstunde anstand.

Je nachdem, wie viele gekommen waren, übten wir Freistöße in den Winkel oder spielten Lupfen, drei gegen drei mit Torwart (und der goldenen Regel »Drei Ecken ein Elfer«) und richtige Matches mit zwei Teams und zwei Keepern. Selbst in der größten Hitze machten wir nur selten Pause, vielmehr freuten wir uns darauf, nach dem Spielen erschöpft zum Dorfladen zu trotten, um uns zur Belohnung eine Spezi oder eine Leberkässemmel zu holen. Ich weiß nicht mehr, was wir auf diesen unzähligen Wegen zum Platz und zurück alles miteinander redeten, als es noch keine Handys oder Internet gab, aber ich weiß, dass wir pausenlos am Quatschen waren, bescheuerte Witze rissen, manchmal auch ernste Dinge ansprachen und uns einander nahe und gut fühlten.

Im Winter war unser Platz wegen des Schnees unbespielbar, auch die Bundesliga machte monatelang Pause – aber als Trost gab es das Hallenmasters im DSF, das ich täglich schaute, sodass sich die Hasseröder-Werbung mit dem Auerhahn bis in alle Zeiten in mein Gedächtnis gebrannt hat. In diesen frühen Jahren war der Hallenfußball noch wilder; in chaotischen und gefühlt endlosen Einzelturnieren wurden die wenigen Mannschaften ermittelt, die später zum Finalturnier reisten.

Dieses konfuse Punkte- und Wertungssystem verstand kein Mensch, dafür durften bei den Qualifikationsturnieren aufregende Teams wie der FC Santos aus Brasilien als Gäste mitspielen. Am spannendsten war für mich der Fliegetorwart: Lag eine Mannschaft in der Halle zurück, wechselte sie manchmal den Torhüter gegen einen zusätzlichen Feldspieler aus, der den Ball als Einziger im Strafraum mit der Hand berühren durfte und als Zeichen ein spezielles Leibchen trug. Beim VfL Bochum war dies Dariusz Wosz, der mit seiner eleganten Technik, seinen schnellen Haken und seinem platzierten Schuss mein Lieblingsspieler wurde. Später verbot der DFB mit deutscher Humorlosigkeit den Fliegetorwart und die Keeper durften fortan den Strafraum nicht mehr verlassen.

Noch schmerzhafter als diese Änderung war für mich, dass Bayern München in der Halle leider erstaunlich schlecht war, sich anfangs kaum für das Finalturnier qualifizieren konnte und später sein einziges Endspiel dort verlor. Im Gegensatz zu Dormund, die das Turnier schon mehrmals gewonnen hatten. Um den Frust über solche und andere Enttäuschungen rauszulassen, schloss ich mich an Wintertagen im Keller des Heims ein, trug mein Wosz-Trikot und übte stundenlang beim »Danteln« den Ball hochzuhalten, ohne dass er den Boden berührte; von ärgerlichen zwei- oder fünfmal bis zu wackligen zwanzigmal – und schließlich dem magischen Tag, als ich hundertzwölf Berührungen schaffte und vor Freude aufschrie. Danach zur Belohnung wieder ein Spezi.

Ging die Saison endlich weiter, war ich an den Spieltagen wie immer hin- und hergerissen. Einerseits liebte ich die nervenaufreibenden Konferenzen im Radio, die schrillen Stimmen, die plötzlich mitten in den Satz eines Kollegen brüllten »Tor in München« – und dann musste man sekundenlang warten und bangen, bis die Schalte hergestellt wurde, um zu erfahren, für wen es gefallen war. Andererseits mochte ich es auch, bis zum Vorabend und der Sendung ran gar nichts über die Ergebnisse zu wissen, um dann mit größter Spannung die einzelnen Spielberichte im Fernsehen anzuschauen. In beiden Fällen folgte zum Abschluss gern das spätabendliche Aktuelle Sportstudio – mit der bis heute ungestillten Sehnsucht, dass jemandem endlich sechs Treffer an der Torwand gelängen.

Das unbestritten größte Highlight war es jedoch, wenn ich in den Ferien zu Hause war und mir vom Geburtstagsgeld oder dem Ersparten ein Ticket fürs Bayernspiel kaufte (oft am Kiosk Münchner Freiheit, Preis: rund zwanzig D-Mark). Das ging auch spontan am Spieltag selbst, denn das Olympiastadion war damals fast nur in den Derbys gegen Sechzig ausverkauft und bot sonst immer Platz. Dann der Weg mit den anderen rotgekleideten Fans von der U-Bahn zum Stadion, dessen Flutlicht man schon aus der Ferne leuchten sah und dessen elegante Dachkonstruktion man bewunderte, während die Gesänge und das Getrommel der Anhänger mit jedem Schritt lauter und lauter wurden …

Samstag, 15 Uhr 30, das war meine Messe.

Auf dem Höhepunkt der Fanliebe, als mich selbst einfache Bundesliganiederlagen ins Tal der Tränen trieben – und ich tagelang in meinem Bayerntrikot herumlief. (Womit ich auf der Coolness-Tabelle tief im Abstiegskampf steckte, während mein Verein unbeirrt um Meisterschaften kämpfte).

Umso gähnender die Leere in der Sommerpause nach dem letzten Spieltag. In den Ferien streunte ich fast täglich in die Münchner Zeitschriftenläden – in der Hoffnung, dass es schon das neue kicker-Sonderheft zur nächsten Saison gab. War das prallgefüllte rote Magazin dann endlich erhältlich, sichetete ich als Erstes die Mannschaftsfotos. Welcher Verein hatte es bei den alten Trikots belassen, wer wagte etwas kühnes Neues? Welche Spielerkäufe gab es? Und wer waren der Jüngste und der Älteste in jedem Team? Die Interviews mit den Spielern und Trainern, die damals vermutlich alle keine Medienberatung hatten, waren rührend offen und ehrlich, manchmal fast derb. Niemand schien etwas zurückzuhalten, vermutlich redeten sie alle nicht anders, wenn man ihnen in der Kneipe oder S-Bahn gegenüber saß.

Heißbegehrt war auch die sogenannte Stecktabelle aus Pappe, die man der Mitte des Sonderhefts entehmen konnte. Vor jeder Saison tippte ich die Liga durch und steckte die jeweiligen Clubemblene schon mal auf die Positionen 1-18, wobei auch persönliche Wünsche berücksichtigt wurden (Bayern auf eins, Bochum mit Wosz auf drei … Sechzig auf Platz achtzehn). An den ersten Spieltagen steckte ich die Embleme dann jedes Mal noch pflichtbewusst um – wenn auch manchmal nur zerknirscht, etwa, wenn Dortmund wieder die Spitze übernommen hatte. Doch nie hielt ich dieses Fleißritual durch, so dass die Stecktabelle nach einigen Wochen bis zum Saisonende unverändert blieb und mir mit ihren veralteten Platzierungen ein schlechtes Gewissen machte. (Dass ich mit dieser nachlässigen Handhabung nicht allein war, las ich später in Andreas Bernards wunderbarem Buch Wir gingen raus und spielten Fußball).

Auch abseits der Stecktabelle schien es als Kind wichtig, alles zu protokollieren. Ich erstellte immer wieder Fantasieaufstellungen und Bestenlisten und beantwortete in meinem Tagebuch geflissentlich den fünfundzwanzigteiligen Fragebogen aus der Bravo Sport an prominante Spitzensportler (Frage: Mein größter Erfolg? Antwort: »Ein Dreierpack gegen den MTV Dießen!«). Genauso führte ich penibel Buch über meine Leistungen als D-Jugend-Spieler, die nach verheißungsvollem Start im Verein (14 Tore in 14 Spielen) allerdings schnell nachließen und bald nur noch am Rande der Bedeutungslosugkeit stattfanden.

Anfangs wusste ich über die Geschichte des Fußballs nicht viel, doch bald begriff ich, dass es hier noch eine ganze Welt zu entdecken gab. Wie ein Archäologe grub ich fortan immer wieder Schätze aus. Da es kein YouTube gab, war ich umso glücklicher über jeden Schnipsel im Fernsehen oder Erzählungen von Älteren. Auf diese Weise stieß ich auf legendäre alte Partien und hörte von vergessenen Spielern und verblassten Erfolgen und Niederlagen. Daneben las ich verschiedenste Bücher, darunter mindestens dreimal die gesamte Bayernchronik von Dietrich Schulze-Marmeling und mehrmals eine uralte Franz Beckenbauer-Biografie mit dem Titel Einer wie ich, die ich irgendwo gefunden hatte. Noch heute denke ich manchmal an seinen ersten Jugendtrainer beim SC 1906 München, der nur ein Bein hatte, aber mit seinen Krücken und schnellen Bewegungen für den jungen Beckenbauer trotzdem unüberwindbar war.

Und dann frage ich mich, ob ich der einzige Mensch auf der Welt bin, der noch daran denkt.

Überhaupt zeigte mein Gedächtnis schon früh eine seltsame Affinität für Fußballdaten. Was immer ich im Fernsehen sah oder in Büchern und im kicker las, schien ihm wichtig und wurde für alle Ewigkeiten bewahrt, selbst Minuten von Toren oder Matches der einstigen DDR-Oberliga – während es auf den Erwerb französischer Vokabeln und andere Bildungsangebote dankend verzichtete. Ich wusste wenig über gleichschenklige Dreiecke, aber fast alles über das magische Dreieck. (Nach der Schule bewarb ich mich sogar mit einer Fußball-Wissenswette bei der ZDF-Sendung Wetten dass.. ? Ich wurde – zum Glück – jedoch abgelehnt mit dem Hinweis, dass es noch einen Achtjährigen gäbe, der mehr wisse. Dieser Achtjährige kam allerdings nie.)

In den vorpubertären Umbaumaßnahmen begann sich mein Gehirn zunehmend nach dem Fußball zu struktieren. So finde ich bis heute wichtige persönliche Erinnerungen fast immer nach Sportereignissen sortiert: Das erste Mal auf einer Party richtig betrunken? Als Bayern gegen Real Madrid 4:2 gewonnen hat – und zwar auswärts im Santiago Bernabéu. Das erste Mal einen geliebten Menschen verloren? Nach einem trostlosen Unentschieden gegen Uerdingen. Auf Klassenfahrt verliebt in Rom gewesen? Zum Championsleaguefinale zwischen Leverkusen und Madrid (wie so oft folgen dann ungefragt noch die Minutenangaben: 0:1 Raul in der 8. Minute, 1:1 Lucio in der 13. Minute mit einem Kopfball, 1:2 Zidane in der 45. Minute mit seinem legendären Volleytreffer).

Mit jedem Jahr meines Fanseins griff der Fußball weiter um sich, fand bald nicht nur auf dem Platz und im Fernsehen statt, sondern auch auf dem Computer. So entdeckte ich mit elf oder zwölf das Managerspiel Hattrick, bei dem man Vereine übernehmen und mit klugen Transfers und Trainingsplänen zum Erfolg führen konnte. Aus irgendeinem Grund hatte es mir dabei der Sportclub aus dem Münchner Vorort Unterhaching angetan. In vielen Stunden neben der Schule oder in den Ferien war es fortan mein großes Ziel, die Hachinger in die erste Liga und dann am besten zur Meisterschaft zu managen.

Das Managerspiel »Hattrick«: Neben der Taktik für meine Unterhaching-Mannschaft schien mir das Wichtigste der Stadionausbau, in den ich viel Zeit und Mühe investierte. Sorglos fälschte ich dafür auch Bilanzen und sehnte mich in drögen Schulstunden nach dem Moment, wenn ich endlich wieder im Computerraum des Heims am PC sitzen und die Disketten einlegen konnte.

Die heutigen, weltweit efolgreichen Fußballsimulationen waren dagegen noch im Larvenstadium. So wurde mir der frühe Ableger FIFA 96 auf der Verpackung als verblüffend realistisch angekündigt, mit spektakulärer Grafik. Ich hatte das Spiel zu Weihnachten bekommen und konnte es kaum erwarten, dieses sagenhafte Meiserwerk nach den Ferien am PC eines Mitschülers auszuprobieren. Bis dahin studierte ich mehrmals am Tag verträumt die Hülle, die mit ihren bunten Bildern so viel Spaß und Aufregung versprach – und wurde nach den Ferien umso mehr enttäuscht. Das Spiel bestand aus nicht nicht viel mehr als ein paar klobigen, matschigen Polygonhaufen in gedrungener Spielerform, immerhin aber mit Originalnamen.

Viel lieber zockte ich wenig später International Superstar Soccer, meistens in den Ferien gegen meinen besten Freund und Nachbarn Attila. Es schien mir überhaupt nicht seltsam, diese Spiele auch in seiner Anwesenheit für uns beide zu kommentieren. Dabei hatte ich immerhin zwei Audioversionen anzubieten: eine Gerd Rubenbauer-Imitation – »Und der Schiedsrichter gibt Elfmeteeeer!« -, und einen seltsamen bayerisch-österreichischen Dialekt, den ich vermutlich von Skisportsendungen aufgeschnappt hatte und mit dem ich »meine Damen und Herren« aus dem »ausverkauften Olympiastadion« begrüßte. (Die beste Fußballsimulation aller Zeiten ist bis heute übrigens Pro Evolution Soccer 6 – da kann jeder FIFA-Ableger einpacken).

In den gefühlt Millionen langweiligen Nachmittagstunden ohne Internet spielte ich mit meinem besten Freund Attila auch immer wieder Tippkick. Schnell fanden wir heraus, dass es uns erheblich mehr Spaß machte, wenn wir die gelben und roten Spieler mit den Farben unserer Lieblingsvereine anmalten. Ich lackierte die metallene Spielfigur in modern gestreiftem Rot-Blau von Bayern München, er seinen Spieler im Gelb-Blau von Fenerbahçe Istanbul. Auch hier ließen es sich Gerd Rubenbauer und sein österreichisch-bayerischer Kollege nicht nehmen, bei unseren teils dramatischen Fantasiespielen vorbeizuschauen und sie zu kommentieren …

Das alles ist nun dreißig Jahre her.

Heute ist mir klar, dass der runde Ball damals viel mehr für mich tat, als mich bloß abzulenken. Er stiftete in schwierigen Phasen Geborgenheit und Halt, als ich noch gar nicht wusste, dass mir das fehlte. »Fußballer, erinnerst du dich noch, als du geträumt hast? Du warst zwölf Jahre alt, und dir gingen Dribblings, Tore und Beifall durch den schwärmerischen Kopf«, schrieb einst der argentinische Spieler und Fußballphilosoph Jorge Valdano – und auf mich traf jedes Wort zu.

Wie viele sensationelle Treffer schoss ich als Kind im Geiste, während es daheim Probleme gab oder ich familiäre Sorgen hatte, wie viele Gegner tanzte ich kunstvoll im Matheunterricht aus, als vor mir eine schlechte Arbeit lag, wie viele Verträge bei Traumclubs unterzeichnete ich nachts im Internat, wenn ich im Bett lag und nicht einschlafen konnte …

Als ich älter wurde, begann ich mich auch für andere Hobbies zu interessieren, nicht zuletzt für Literatur, Musik und Kino. Und doch blieb meine Liebe für den Fußball davon lange Zeit unberührt und intakt, auch nach dem Abitur.

So trainierte und spielte ich nach meinem Umzug nach Berlin jahrelang in einer Kreisliga-Mannschaft; ein wilder, bunter Haufen aus Bauarbeitern, Studenten, Polizisten, Ex-Punks und Träumern, der mehr verlor als gewann und auch deshalb Woche für Woche Helden- und Außenseitergeschichten schrieb. Nichts war schöner, als danach bei einem Bier oder Radler gemeinsam mit den anderen zusammenzusitzen, zu feixen und noch mal die wichtigsten Momente zu besprechen.

Damals begriff ich, welch Glück ich in meiner Jugend mit den bayerischen Rasenplätzen gehabt hatte – und schürfte mir nun bei Grätschen auf den Berliner Aschefeldern mehrmals den Oberschenkel auf bis aufs Blut. Als Spieler wurde ich an guten Tagen als Dribbler und Flankengeber auf dem Flügel eingesetzt, für den Sturm galt ich zurecht als zu nervenschwach; aber manchmal dufte ich in die Spitze, und jedes meiner unwichtigen Tore bedeutet mir bis heute viel.

Mit vierundzwanzig – ich hatte gerade mein erstes Buch veröffentlicht – wurde ich dann das erste Mal für die Nationalmannschaft berufen. Genauer gesagt: für die Autoren-Nationalmannschaft, kurz: Autonama. Wie sich herausstellte, gab es nämlich noch andere seltsame Menschen wie mich, die als Kind eigentlich Fußballspieler werden wollten, es aus den naheliegendsten Gründen nicht gesschafft hatten – und sich später als kickende Schriftsteller doch noch ihre Kindheitsträume erfüllten (etwa unter Trainerlegenden wie Hans Meyer und Dettmer Cramer in Brasilien oder Italien zu spielen und sich in originalen Trikots als echte Nationalspieler zu fühlen. Also fast.)

Ein Bild vom Herbst 2009, nach einem Tor für die Autoren-Nationalmannschaft gegen die Türkei (Foto: Getty Images). Wir spielten im Millerntorstadion, unser Trainer war der leider kurz darauf verstorbene Jörg Berger. Ich war schon ausgewechselt, wollte aber unbedingt noch mal rein, da sagte er »Okay, Junge, aber dann musst du auch treffen« … Aufgrund von Knie-OPs und verschiedenen Verletzungen habe ich inzwischen schweren Herzens aufgehört.

Während ich als Kind ein absoluter Hardcore-Fan gewesen war, der bei allen Spielen um den Sieg zitterte, habe ich als Erwachsener des Öfteren damit gehadert, mit dem FC Bayern keinen Underdog zu unterstützen. Mich störte, dass mein Herz nicht für einen Club schlug, der auch mal gegen den Abstieg kämpft und jedes Jahr aufs Neue einer unberechenbaren Saison entgegensieht – sondern für einen Rekordmeister mit dem depperten Slogan „Mia san mia“, der den Erfolg halbwegs planen konnte.

Aus diesem Grund versuchte ich es irgendwann in den Nullerjahren mit einer Flucht. Ich wollte als Fan zum damals schwächelnden FC Liverpool wechseln, der mir immer schon sympathisch gewesen war; wohl wegen all der Folklore um Bill Shankly und der Hymne von Gerry & The Pacemakers. Gespannt las ich mich vor einem Match gegen Newcastle oder Sheffield tiefergehend ein, setzte mich in eine Sportsbar mit englischem Kommentar – und fühlte beim Schauen der Partie genau gar nichts. Selbst dann nicht, als Liverpool noch spät zum Sieg traf.

Wie von Nick Hornby prophezeit musste ich feststellen: dein Verein ist nun mal dein Verein. Du kannst vielleicht mit dem Fußball als Ganzes aufhören, aber du kannst den Club nicht wechseln.

Und so kehrte ich als Fan reumütig aus dem englischen Norden zurück; wie ein Spieler, der sich bei einem Transfer nicht durchsetzen konnte und sein Zuhause vermisste. Vielleicht hatte ich diese kurze Trennung damals auch gebraucht, denn fortan feuerte ich wieder meine Münchner Farben an und verteidigte den Verein leidenschaftlich, wenn er angefeindet wurde – also ziemlich oft.

Fans anderer Vereine zeichnen sich durch ihre Leidensfähigkeit aus, Fans von Bayern dadurch, Häme und Hass zu ertragen und das richtige Leben im falschen zu finden. So freute ich mich umso mehr, wenn mein Verein in Form von etwa Hoeneß in Not geratenen Clubs oder strauchelnden Ex-Spielern half. Oder wenn die Ultras von der Schickeria Aktionen gegen die durchkommerzialisierte Vereinspolitik, Rassismus und Homophobie brachten – und sich gleichzeitig für soziale Belange und das Gedenken an die jüdischen Wurzeln und Kurt Landauer einsetzten.

Ich jubelte mit Schweinsteiger, Lahm und Coach Heynckes über das sagenhafte Triple und andere Erfolge, wobei es insgeheim die Momente des Scheiterns waren, in denen ich mich dem Verein am nächsten fühlte. Ob bei der „Mutter aller Niederlagen“ 1999 gegen Man United, als in der Nachspielzeit der sicher geglaubte Sieg entrissen wurde, oder beim Endspiel „dahoam“ gegen Chelsea, das man auf fast noch unfassbarere Weise verlor.

Letzteres sah ich mit sechzigtausend anderen Bayernfans im ausverkauften Münchner Olympiastadion beim Public Viewing (während das echte Spiel „nebenan“ in der neuen Allianz Arena stattfand), und nie werde ich vergessen, wie wir uns alle nach Thomas Müllers vermeintlichem Siegtor erst in den Armen lagen, die Gesichter vom Pyrofeuer orange erhellt – und dann nach der Niederlage im Elfmeterschießen schweigend durch den nächtlichen Olympiapark nach Hause gingen; ein Trauermarsch in rot und weiß.

Nach solchen Rückschlägen wirkte die sonst so selbstbewusste bayerische Fassade rissig, war nichts mehr von der ausgestellten Dominanz zu spüren. Auf einmal wirkte mein Verein verletzlich, menschlich. Ein alter Kumpel an der Bar, der eine Umarmung brauchte und mit jedem Frustbier sympathischer wurde. Ich habe nach diesen Spielen geheult und noch wochenlang gelitten – aber nie war ich lieber Fan.

Und doch …

Und doch ging im Laufe der Jahre etwas zu Bruch. So unerklärlich und plötzlich, wie das Fußballfieber bei mir nach der WM 1994 in Amerika ausgebrochen war, klang es nun wieder ab. Sei es durch die FIFA und all die Blatters, Infantinos und korrupten Leute im Hintergrund, die das Spiel mit ihren Deals zerstörten. Durch die unzähligen Streaminganbieter, ständig neuen Wettbewerbe und fassungslos machenden Enthüllungen auf Football Leaks. Oder durch eine WM in Katar an Weihnachten, die nur durch Bestechung zustande kam und die mutmaßlich hunderten bis tausenden Gastarbeitern das Leben kostete – während die restliche Fußballwelt nichts dagegen unternahm, als würde sie dem Bau der Pyramiden zusehen.

Auch mein Club, der für mich seit der Kindheit immer wieder ein Ort der Zuflucht gewesen war, schien mir kein Zuhause mehr zu sein. Als Fan von Bayern konnte ich mich über diese zunehmend erdrückende Dominanz und die endlosen Siege und Meiserschaften einfach nicht mehr freuen. Vermisste die Spannung, Ausgeglichenheit und Unberechenbarkeit von früher. Und störte mich an Deals mit Katar, mangelner Kritikfähigkeit und abgehobenen Pressekonferenzen.

Und so tat ich mit Mitte dreißíg etwas, was ich früher nie für möglich gehalten hätte: Ich trat aus. Als Mitglied aus meinem Verein, aber vielmehr auch aus dem modernen Fußball als Ganzes.

Beim Pokalfinale 2018 sah ich, wie sehr die Frankfurtfans über den unerwarteten Sieg gegen Bayern jubelten. War es nicht schön, wie spannend früher auch die Bundesliga war, als man finanziell noch eng beisammen lag? Wer kann sich nach einer 8. oder 10. Meisterschaft in Serie noch ernsthaft freuen?

Dabei hätte ich das alles eigentlich besser wissen müssen. Schließlich wies schon Mitte der Neunzigerjahre ein legendärer Werbespot auf diese Entwicklung hin. Darin bekundete der damals blutjunge Nachwusstar Lars Ricken: »Ich sehe Typen in Nadelstreifen, ich sehe Geschäftemacherei ohne Ende.« Dass Ricken das alles in einem Spot für Nike sagte und somit Werbung für einen amerikanischen Megakonzern machte, war wie vieles in diesem Sport: widersprüchlich.

Denn in Wahrheit gibt es nicht wenige Menschen, die sich bereits am bunten Neunzigerjahre-Fußball, der mich zum Fan machte, störten. An den dröhnenden Kommentatoren, Stories und farbigen Jacken aus der Sat.1-Sendung ran, die ich als Kind so geliebt habe. Am Merchandising, den schon damals immer teureren Trikots und dem zunehmenden Hype. Es ist also auch etwas heuchlerisch und nostalgiebesoffen, dass ich das alles früher toll gefunden habe und mir der Fußball heute selbst zu kommerziell geworden ist; zu abgehoben und hysterisch in seiner bubble, mit zu viel Geld und Gier und »Geschäftemacherei ohne Ende«. Alles geschenkt. Nur:

Was macht man nun als Fan im Exil?

Man bleibt natürlich auch hier: widersprüchlich. Boykottiert eine WM, schaut dann aber doch die Europameisterschaft danach. Hat weiterhin ein Abo für den kicker und 11Freunde. Und blickt auch der einstigen Liebe noch immer mit speziellem Interesse hinterher, manchmal sogar mit alter Zuneigung (etwa wenn Bayern in der Championsleage gegen finanzstärkere Vereine antritt) … Beziehungsstatus: kompliziert.

Gleichzeitig beginnt man trotzig, sich nach anderen Clubs umzusehen. Flirtet mit Klopps Liverpool, fiebert mit Frankfurt in Europa mit und freut sich über Streich bei Freiburg und seine klugen Worte gegen den Rechtsruck. Man besucht auch einige Spiele von Union Berlin und schreibt darüber Texte oder feiert die Meisterschaft von Leverkusen unter Alonso – die nach elf Jahren Bayerndominanz eine Erlösung für alle war.

Aber man spürt: es wird nie wieder dasselbe sein.

Nie wieder kann ich als Fan eines anderen Vereins so unschuldig und aufrichtig mitfiebern wie einst als Kind, als ich nach einem harmlosen 1:2 in der Saison 1995/96 gegen den HSV nachts im Skilager heulte und nach dem Meisterschafts-entscheidenden Tor von Rizzitelli im Jahr darauf gegen Stuttgart wie verrückt durchs Zimmer hüpfte. Und bei keinem anderen Club werde ich die Kader und Ergebnisse früherer Jahre so mühelos auswendig können oder auf einstige Lieblingsspieler wie Lizerazu, Scholl und Deisler zurückblicken, deren Trikots ich als Kind und Jugendlicher stolz trug.

Nein, es wird nie mehr dasselbe sein – so wie auch der unperfekte, greifbare Fußball, in den ich mich einst wie Hornby verliebte, nicht mehr derselbe ist.

Aber es gibt diesen Fußball noch. Irgendwo in meinem Kopf, in diesen unzähligen umherflirrenden Bildern, Gefühlen und Erinnerungen aus meiner Kindheit und Jugend, als ich den ganzen Tag mit Freunden auf dem Platz stand und träumte. Als ich leidenschaftlich mögliche Neuzugänge diskutierte und eine zitternde Vorfreude spürte, wenn ich nur an die Bundesligaspiele am Wochenende dachte. Und als ich im Urlaub in Italien eine Pizza vom Blech aß, auf die Piazza schaute und das Leben weit schien und endlos und voller Möglichkeiten.

The beautiful game – hier im alten Olympastadion, bei einem 2:0 gegen Bochum (mit einem herrlichen Freistoßtreffer von Sebastian Deisler)